ZUM GEGENSTAND UND ZUR PERSON:
Geschichte ist nicht das, was geschehen ist, sondern das, was daraus gemacht wird.
Geschichte ist nicht das, was geschehen ist, sondern das, was daraus gemacht wird. In Kulturen war es das, was Menschen erinnerten und davon weitergaben. In frühen Zivilisationen verwandelten das Mächtige so, dass es ihre Macht rechtfertigte. Macht tradiert jetzt ihre Rechtfertigung.
In der griechisch-römischen Antike tauchen dann Geschichtsschreiber auf, die eine solche Geschichte der Macht und der Mächtigen, mit individuellen Zügen versehen, verschriftlichen und so fixieren. In der Nachantike und dem früheren Mittelalter sind das im wesentlichen geistliche Herren, Mönche, Äbte, Bischöfe, aber immer Leute, die sich mit den Mächtigen oder wenigstens einer Fraktion von ihnen identifizieren und oft auch dazu gehören.
In der Spätzeit eines langen Mittelalters bis ins 18. Jahrhundert ist eine solche Rechtfertigungsgeschichte so selbstverständlich geworden, dass weder der Übergang der Autorenschaft auf beamtete Staatsdiener noch die Formulierung einer kritischen Wissenschaftlichkeit im 19./20. Jahrhundert daran etwas geändert haben. Aber selbst diese kritische Wissenschaftlichkeit, im wesentlichen eine Errungenschaft weniger Intellektueller des zuvor lateinischen Abendlandes, ist inzwischen in Gefahr zu verschwinden.
Das hat auch etwas damit zu tun, dass sie nie aus ihrem engen Elfenbeinturm hinaus gelangte. Die meisten Menschen, mit dem Bewusstsein stiller Untertänigkeit ausgestattet, lesen Texte überhaupt nur, wenn es unbedingt nötig ist oder aber, wenn es zur Unterhaltung bzw. dem Zeit-Totschlagen dient. Die Mühen größerer Nachdenklichkeit finden ohnehin kaum Platz neben den Mühen der Aufrechterhaltung der eigenen materiellen und zugleich psychischen Existenz und dem Übertönen erheblicher Ängste und Sorgen durch das Amüsiergewerbe und seine Drogen. Darüber hinaus nehmen manche Menschen zwar die Rechtfertigungs-Geschichte der Macht in extrem simplifizierter Form und sehr geringem Umfang auf, empfinden sie aber ansonsten kaum als ihre Sache. Wenn etwas aufkommt, dann sind das unreflektierte Ressentiments.
Amateure, die im 19./20. Jahrhundert dagegen anschrieben, sind einmal dem Problem erlegen, dass das Material für eine andere Geschichtsschreibung bis ins späte Mittelalter notgedrungen vergleichsweise dürftig ist, andererseits erlagen sie aber auch wie der erste unter ihnen, Karl Marx, der Versuchung, der Geschichte eine neue erhoffte Sinnhaftigkeit zu verpassen, um sie für sich plausibel zu machen. Sie haben damit dem Unheil der Mächtigen am Ende ein weiteres hinzugefügt, wie wir heute wissen können.
Der Kapitalismus, also die Geschichte der rund tausend letzten Jahre, ist in nie dagewesener Form dabei, den Lebensraum Erde zu zerstören. Er hat die Menschenmassen hervorgebracht, die er zu seiner Entfaltung braucht, und der größte Teil von ihnen würde sterben, wollte man von ihm hinreichend schnell wegkommen. Damit würden auch die ihre Macht verlieren, welche weltweit die Fäden immer totalitärerer Machtentfaltung in den Händen halten. Als global agierendes Kapital haben sie, oder zumindest zeitweise mächtige Fraktionen von ihnen, mehr oder weniger erfolgreich Politagenturen als Partner, an die sie das Strukurieren der Menschenmassen abgeben, und die wiederum finanzieren seit dem 13. Jahrhundert und bis heute Hochschulen, die nicht nur Dienstboten dieses Kapitals heranziehen, sondern unter ihnen auch die Propagandisten der grundsätzlichen Wohltätigkeit der Bewegungen des Kapitals, inzwischen längst Fortschritt genannt, zu denen eben auch die Geschichtsschreiber gehören.
Hinter dem Rücken der Menschen hat Kapitalismus eine Eigengesetzlichkeit entfaltet, die sich gegen die lebendige Natur und den Menschen als Natur- und Kulturwesen richtet. Dabei zerstört er nach und nach auch sich selbst und produziert zugleich jene Massenvernichtungsmittel, die alleine schon ausreichen, den Planeten komplett zu verwüsten. Zunehmend mit dem Rücken zur Wand versuchen die politischen Verwalter der Kapitalbewegungen, entweder mit gewalttätigem Terror die Menschen unter sich in Schach zu halten, oder aber mit immer totalerem Zugriff auf ihr Leben und der Gratifikation durch immer höher kapitalisiertes Amüsement samt dessen Verblödungspotentials. Politik selbst ist Teil des Problems und deshalb zu Lösungen auf Dauer offensichtlich unfähig.
Die Freiheiten, die Kapitalismus in seiner Blütezeit ganz langsam hervorbrachte, waren solche der konkurrierenden Kapitaleigner für deren Entfaltung. An ihnen nahmen dann im 19. Jahrhundert in großen Teilen Europas jene Kreise teil, die sich selbst wohlhabend-"bürgerlich" sahen. Der kleine, selbst politisierende Teil unter ihnen, darunter auch Vertreter einer neuartigen Wissenschaftlichkeit, schaffte die (gemeinsame) Macht von Monarchen, Adel und Kirche ab oder reduzierte sie wenigstens erheblich. Das Schlagwort dafür war Demokratie oder Republik, also ein Kapitalismus mit einer gewissen Rechtstaatlichkeit und Gewaltenteilung, der aber in jeder größeren Krise der Kapitalverwertung wieder gefährdet bleibt.
In solchen Demokratien gab es bislang in Zivilisationen nie dagewesene Phasen einer gewissen Freiheit, sich öffentlich unterschiedlich äußern zu dürfen. In der ersten Demokratie des Restes deutscher Lande nach dem Ersten Weltkrieg war das ein wenig so, und in der großstädtischen BRD in den siebziger bis neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts ebenfalls. Aber in dieser Zeit eines zunehmenden Konsumismus begannen auch ersatzreligiös motivierte Kinder des Wohlstandes, auf dem Weg in persönliche Karrieren - meist mit geringen Kenntnissen ausgestattet - erst modisch "linke" Ideologien aufzunehmen, um sie dann in den nächsten Jahrzehnten immer ungenierter in den kapitalistischen Konsumismus zu integrieren.
In den Massenmedien und dann in Staatsämtern angekommen, macht sich in der BRD eine zunehmende Unduldsamkeit breit, die, mit einer parareligiösen Gläubigkeit an die eigene Mission (und Karriere) ausgestattet, nun nicht nur in bislang unerhörtem Maße in das Leben der Menschen eingreift, sondern zu den neuen Glaubenssätzen auch immer neue Feindbilder braucht, so wie der christliche Gott und seine Kirche einst eines Teufels bedurften.
Zunehmende Zensur, Diffamierung und Diabolisierung nicht aktuell politisch korrekter Ansichten und immer weitergehende Benachteiligung ihrer Träger sind inzwischen wieder an der Tagesordnung. Zugleich ist derweil jene Mittelschicht "bürgerlicher" Selbständiger fast völlig verschwunden, die als Träger von "Demokratie" der Garant für gewisse Freiräume gewesen war, und den Massen Unselbständiger sind intellektuelle Spielräume weiter gleichgültig, solange die große Auswahl an Waren und Amüsiermöglichkeiten bleibt. Derzeit scheinen solche Räume zur Gänze zermahlen zu werden in dümmlichst-schriller Polarisierung zwischen "links" und "rechts", die auf das bequemste jede kritische Nachdenklichkeit zwischen den Fronten zu zerreiben droht.
Kapitalismus von seiner aktuellen Spätzeit her zu verstehen, ist viel schwieriger, als das von den Anfängen her möglich ist. Zum einen hat der schon von Karl Marx ungenau beschriebene „tendenzielle Fall der Profitrate“ inzwischen zu einem Maß an Kapitalkonzentration geführt, welches nur noch global und sehr schwierig zu verfolgen ist. Nachdem dabei der klassische Kaufmann als Ladenbesitzer und Familienunternehmer, der produktive Handwerker und die bäuerliche Landwirtschaft in den Metropolen des Kapitals weithin verschwunden sind, ist zugleich dort auch die Trennung in Kapital und Arbeit in nicht unbeträchtlichem Maße überformt worden durch die in Weltregionen der Massenproduktion und solche des Massenkonsums.
Anders gesagt, mit der Sozialdemokratisierung der Metropolregionen sorgen dort inzwischen Staaten als politische Agenturen national begriffenen Kapitals dafür, dass die Konsumenten via Arbeit und staatliche Umverteilung von Gewinn-Anteilen von oben nach unten je nach polit-ideologischer Einschätzung am Kapital als Konsumenten partizipieren, - allerdings ohne andere Verfügungsmacht darüber zu erhalten. Sie sehen darum mehr als je zuvor die zugleich nicht durchschauten Bewegungen des Kapitals als ihre Sache an, da sie diese unmittelbar mit dem Niveau ihres Warenkonsums verbinden.
Mit der Entstehung monströs großer, nur noch pseudo-städtischer Agglomerationen, die an Umfang zum Teil längst die Riesenstädte antiker asiatischer und orientalischer Despotien übertreffen, ist dabei jene mittelalterliche bürgerliche Öffentlichkeit verschwunden, welche wenigstens noch gedankliche Partizipation am großen Geschehen ermöglichte, - wenn auch nur mehr oder weniger und nur für wenige. Seit 1776 und 1789 intensivierte sich die Unruhe dann auch zunehmend industrialisierter Massen, die tradierte Religion durch ähnlich ins Primitivste gezogene Polit-Ideologien ersetzen und sich immer mehr mit Warenkonsum identifizieren. Staaten sind seitdem, ob als sogenannte Demokratien oder als despotische Terrorregimes, im wesentlichen mit der Bändigung dieser Massen beschäftigt.
Konsequenterweise ist eine gigantische Amüsierindustrie entstanden, staatlich gefördert wie von Machthabern im alten Rom und kriminell durchsetzt wie kein anderer Bereich. Elektronische Medien transportieren big business in Sport, primitivster Musikindustrie, in der immer weiter wachsenden Sexindustrie und der sexuellen Durchformung insbesondere weiblicher Körper für einen Markt. Das Ziel ist intensiv verblödende Gleichschaltung von Köpfen und Körpern, - aber die damit einhergehenden psychischen Deformierungen können selbst durch den allgemein verbreiteten Konsum bewusstseins-verändernder Drogen längst nicht mehr kompensiert werden, sondern nehmen zu.
Konsequenz ist, dass Staaten, ob demokratisch oder offen terroristisch, immer detaillierter in das Leben ihrer Untertanen eingreifen, zumindest soweit sie Fraktionen des Untertanen-Verbandes dafür gewinnen. Dieser Vorgang zunehmend totalitärer Verstaatlichung überdeckt die Bewegungen des global weiter wachsenden Kapitals bis zur Unkenntlichkeit. Staat und Kapital verschmelzen in der Wahrnehmung der meisten Menschen zu einem letztlich undurchschaubaren Gebilde, dem man sich gerne unterwirft, solange Konsumerwartungen und Amüsierbedarf von ihm gedeckt werden. Die Schreckensvisionen von Samjatin, Orwell und Huxley sind in leicht modifizerter Version damit bereits Wirklichkeit geworden.
Der auf den folgenden Seiten folgende Versuch, in einem Deutsch möglichst vor seinem derzeit anhaltenden Schwundprozess eine Geschichte des frühen Kapitalismus zu schreiben, seiner Voraussetzungen, seiner Entstehung und seiner ersten Blüte, greift bei aller Kritik dankbar alle bisherigen Forschungen auf, ohne sich ihre Sichtweise zu eigen zu machen. Er vertritt keinerlei religiösen oder parareligiös-politischen Werte, sondern versucht einfach hinzuschauen auf das, was dann danach zu dem wird, wovon der Autor sich heute umgeben sieht. Hinschauen wird aber immer dort schwieriger, wo vorgegebene Deutungsmuster das Auge zu trüben drohen.
Der Text ist Ergebnis eines langen Versuches, sich aus dem immer wieder neu Selbstverständlichen zu lösen, um so die Kunst eines kritischen Verstehens möglichst frei davon auszuüben. Zugleich hat das Studium der Vergangenheit und der langsam freiere Umgang mit der Gegenwart dazu beigetragen, eine gewisse innere Freiheit überhaupt erst zu erlangen. Texte wie einige von Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud haben dazu frühe Anstöße gegeben, ohne Gläubigkeit damit zu verbinden.
Die Rechtfertigungsgeschichte der Macht und der sich immer neu auftürmenden Machtstrukturen soll dabei nicht ersetzt werden durch eine Geschichte "von unten", quasi ihr Spiegelbild. An der Vor- und Frühgeschichte des Kapitalismus bis in seine erste Blüte sind alle Menschen beteiligt, nur ganz wenige befehlend und die meisten meist bequem gehorchend. Das Unheil, dem sie bis heute den Weg bereiteten und weiter bereiten, ist dabei zutiefst in jenen menschlichen Absonderlichkeiten begründet, an denen wir alle (!) Anteil haben.
Nachdem Menschen sich Götter erfunden hatten, und dann nicht nur Machthaber sich entweder gottgleich oder von Göttern eingesetzt gaben, ist es dazu gekommen, dass beim Verlust des Glaubens an sie Menschen sich nun selbst wie Götter in ihrer jeweiligen Welt benehmen. Ein wenig Entsetzen über das, was sie inzwischen treiben, wäre ihnen wohl angemessener. Aber die menschliche Psyche ist nicht auf unangenehme Erkenntnis angelegt, sondern auf deren bequeme Vermeidung. Sie konstruiert sich tröstende und im rosa Nebel liegende Welten, die hinreichend entfernt sind von Ahnungen beunruhigender Wirklichkeit.
Wer sich mit der Geschichte der Menschen unter den Bedingungen von Macht und Herrschaft anders als akademische Historiker beschäftigt, wird um das Entsetzen über Machtgier und Unterwerfung, Besitz- und Geldgier derer, die das ausleben können, und über die Menschen inhärente Aggressivität, Bosheit und Gewalttätigkeit samt geradezu unglaublicher Dummheit sogar der in manchem zugleich Intelligenten nicht herumkommen. Dem ist dann aber sinnvollerweise nicht mit Moral im neueren Sinne des Wortes beizukommen, diese versteckt nur, was und wer Menschen sind und immer wieder sein können. Aber er verliert den vorherrschenden Optimismus des alltäglichen Geschwätzes der letzten Jahrtausende und ihn kann das Gerede der Politiker und Ideologieproduzenten heute mehr denn je nur anekeln. Wer oder was Menschen unter den Bedingungen von Macht und Herrschaft sein können, insbesondere hier auch unter den Bedingungen eines aufstrebenden frühen Kapitalismus, zeigt sich nur in dem, was sie getan haben und tun, in den Tatsachen also im eigentlichen Sinne des Wortes. In ihnen können wir erkennen, wer wir sind und zu welchem Unheil und Schrecken wir Jahr für Jahr fähig sind, und zwar je nach unseren Möglichkeiten.
Wer sich hingegen von einer geschönten Geschichte der Mächtigen und Reichen faszinieren lässt und dabei die vielen mit ihren ganz engen Spielräumen vergisst, verfälscht Geschichte bis zur Unkenntlichkeit. Sie wird dann aber allerdings genießbar für diejenigen, die vor jeder Annäherung an das, was hier Wirklichkeit heißen soll, ängstlich zurückschrecken.
Erkenntnis ist hier nicht auf ein fertiges Ergebnis (in einem Buch) angelegt, denn die Welt, die der Autor zu konstruieren versucht, kann sich einer Wirklichkeit nur immer neu annähern, ohne sie recht fassen zu können. Mehr ist nicht möglich, für keine Vergangenheit oder Gegenwart. Selbst eine jenseits davon existierende Wirklichkeit bleibt notgedrungen nur ein (notwendiges) Postulat. Deshalb ist ein Text im Internet, mit einem Rechner geschrieben, sehr geeignet, da sich so ständige Veränderung leicht bewerkstelligen lässt. Schreiben tut ihn ein Autor, für den sie eine Entdeckungsreise ist, die auch ins eigene Innere führt und führen soll. Das immer neue Überdenken der Zusammenhänge und Entwicklungen soll sich dabei langsam einem durchgehenden Text nähern, von dem immer mehr Material in Anhänge ausgesondert werden kann. Zugleich wird sich eine ansatzweise innere Konsistenz des durchgehenden Textes erst langsam einstellen, und zwar zuerst für die Anfänge und dann erst nach und nach für die folgenden Jahrhunderte.
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sinnfuersinnlichkeit hieß vor langer Zeit eine Seite, die sich zunächst mit einer Bedeutungsanalyse von Wörtern in Jane Austens 'Sense and Sensibility' beschäftigte, und die sich dann zu arg gewagten Untersuchungen über das 16. bis frühe 19. Jahrhundert unter dem Titel 'Die Tugend, der Teufel und die heilige Schrift' ausweitete. Ich habe den Netznamen nicht nur aus praktischen Gründen beibehalten, sondern wegen seiner akzeptablen Doppelbedeutung: Man kann einen Sinn haben für Sinnlichkeit, also für Offenheit und Kultivierung der Sinne als Grundlage aller Erkenntnis, und andererseits die vernunftgemäße Verstandestätigkeit der Herstellung von Sinnhaftigkeit an die Stelle von Sinnlichkeit setzen. Zwischen beiden Polen und in den vielen Punkten dazwischen lässt sich europäisches Mittelalter ganz gut verstehen. Abgesehen davon ist die Beibehaltung des Netz-Namens auch ganz bequem.
Ulli Wohlenberg, 11.12.2023
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