Hadlaub
Hadlaub in der Manessehandschrift
Um 1300, also in der Spätzeit der Entdeckung eines neuen lyrischen Ichs im christlichen Abendland, eines sensibilisierten, mehr oder weniger sich gefühlvoll gebenden Individuums, kommt es in Zürich zur Sammlung von Minnesang in einem als Manesse - Handschrift benannten Buch, welches zudem mit vielen Illustrationen "illuminiert" ist.
Unser Hadlaub, um den es hier geht, ist möglicherweise ein wohlhabender Züricher Bürger und ein später "Minne"sänger, einer der kunstvollsten im deutschsprachigen Raum, und vielleicht Mitarbeiter an dieser Sammlung. Ihm ist eine ganz besondere Buchmalerei gewidmet: Sie illustriert untereinander die Anfänge der ersten zwei Lieder, die in dieser Handschrift aufgeschrieben sind.
Es handelt sich um Lieder, die gesungen wurden, aber leider überliefert die Handschrift nicht die Musik, wie es zum Beispiel Handschriften der Trobador-Lyrik aus dem okzitanischen Raum zwischen Katalonien und Italien tun.
Das Bild ist zweigeteilt, da es von den Anfängen zweier Liedern erzählt, aber es ist zugleich in eine Einheit gestellt durch die Kirche rechts, in die die Dame unten auf den ersten Blick hineinzugehen im Begriff scheint, während das Gebäude im oberen Bild mit dem Kirchturm den rechten Bildrand ausfüllt. Im Lied kommt die Dame unten allerdings aus der Kirche heraus, was auch passender ist.
Hadlaub ist wohl eine Art kritischer Spätvollender der neuen lyrischen Form, vielleicht auch deshalb hat Gottfried Keller ihm eine ganze Erzählung gewidmet. Mit ihm gewinnt Minne-Lyrik ein neues Format, sie bekommt balladesk- erzählende Momente und sie erhält Brüche. Die Zeit des Minnesangs und des fin amor geht ihrem Ende entgegen. Ihre Anfänge waren eben auch aristokratisch und nicht bürgerlich gewesen.
Das besondere an der Buchmalerei zu den Hadlaub-Liedern ist, dass sie etwas davon widerspiegelt. Nicht nur erzählen die beiden Bilder das, was im Lied "erzählt" wird, anders zumindest als die meisten Illuminationen der Handschrift, sondern sie enthalten noch ein ausuferndes erzählerisches Moment, den Mann nämlich, der scheinbar beziehungslos zu beiden Szenen und den Liedern die Kirchturm-Glocke läutet.
Ich bleibe zunächst bei dem, was für das nicht sonderlich mit Kenntnissen bewaffnete Auge unmittelbar erkennbar ist. Im unteren Bild wendet eine frühgotisch gekleidete Dame mit gotischem Schwung ihren Körper dem geöffneten Eingang der Kirche zu, während ihr Kopf sich mit dem Gesicht zurückwendet, wobei der überlange Hals dem damaligen weiblichen Schönheitsideal entspricht, die Körper werden auch dadurch länger, schlanker, eleganter. Die machtvoll gedrungenen romanischen Körperformen weichen solchen, die verletzlicher, empfindsamer werden.
Ihr Blick gilt dem zu ihr hin gebückten und sich auch durch die Beugung der Knie vor ihr verneigenden Mann hinter ihr, der durch Stab, Hut und Brotbeutel als Pilger ausgestattet ist. Sie trägt ein Hündchen in ihrem einen Arm, er hält ihr mit einer Hand ein vermutlich beschriftetes Papier entgegen. Ebenso emblematisch wie der Hund als Symbol unbedingter Treue ist das Wappen auf der anderen Seite, der Kontrapunkt auch zur Kirche, denn es lässt sich wohl als Teufel deuten.
Damit ist die Begegnung zwischen der Dame beim Kirchgang und dem als Pilger verkleideten fahrenden Sänger (und um ihn handelt es sich) aber noch keineswegs aufgeklärt. Dazu ist auf den betreffenden Liedtext einzugehen.
Im oberen Bild fehlt diese extreme emblematische Polarität, der zeichenhaft dargestellte Widerspruch, vielmehr geben sich der durch seinen Aufzug als Spielmann erklärte Sänger und die Dame hier die Hand. Das aber geschieht entweder gegen den Willen der Dame, deren Schoßhund hier ihre innere Haltung demonstriert: Er beißt den Sänger in die Hand. Oder der Hund erinnert daran, dass die Frau ehelicher Treue verpflichtet sein sollte. Das lässt die Vermutung zu, dass der Hund im unteren Bild, so wie er dargestellt wird, den Pilger-Sänger anbellt. Die Schönheit der (hohen) Minne als Kunstform wird drastisch durchbrochen.
Zur Erzählung im oberen Bild gehört aber noch mehr: Jeweils zwei bzw. drei Personen hinter dem eigenartigen Paar scheinen jeweils Mann bzw. Frau zu unterstützen und gar in das Geschehen einzugreifen. Zudem lassen sich aus dem Bild drei hintereinander gelagerte Vorgänge erschließen: Der Sänger wird angesichts der verehrten/begehrten Dame ohnmächtig, diese wird offenbar darauf veranlasst, ihm die Hand zu geben, worauf der Hund den Sänger in die Hand beißt. Oder aber: Die Dame gibt dem Sänger die Hand, was diesen vor Erregung ohnmächtig werden lässt, und der Hund beißt des Sängers Hand, da er die Dame zur Untreue verleitet.
Ferne, fremde Welt, diese Welt unserer Vorfahren von vor 700- 800 Jahren, und sie erscheint noch ferner und fremder, auf den ersten Blick noch unerklärlicher, wenn wir die beiden zugrundeliegenden Liedtexte zur Hand nehmen.
Aber damals entstehen Grundlagen, Wurzeln dessen, wer wir heute sind, und wir zehren immer noch ein wenig von ihnen, auch wenn wir uns kaum noch mit ihnen auseinandersetzen.
Um den Ton des einen mittelhochdeutschen Liedes ein wenig ins Gefühl zu bekommen, hier die ersten vier Zeilen im Original:
Ach mir was lange / nâch ir sô wê gesîn: / dâ von dâchte ich vil ange / daz ir daz würde schîn
Und nun ein Übersetzungsversuch ins Neuhochdeutsche: Ach, mir war lange / nach ihr so weh gewesen: / Darum war ich sehr darauf bedacht, / dass sie das merken sollte.
Ich nahm mir ihre Beachtung / im Gewand eines Pilgers / so heimlich, wie es ging / als sie aus der Mette kam.
Ich hatte voll Sehnsuchtsklagen / einen Brief, an dem ein Haken war. / Den hing ich an ihr Gewand vor Anbruch des Tages / so dass sie es nicht bemerkte.
Mir deuchte, sie dachte: / „Ist das ein Verrückter? / Was wollte er in meiner Nähe, / etwa um mich anzufassen?“
Sie fürchtete sich sehr, / meine Herrin wunderschön. / Doch schwieg sie um ihrer Ehre willen. / Ganz schnell entkam sie mir.
Ich hatte mich geeilt bei ihr, / damit sie bald nach Hause käme, / dass niemand den Brief an ihr sah. / Ungesehen brachte sie ihn heim.
Was sie da mit ihm machte / wurde mir nicht gesagt /ob sie ihn fortwarf oder behielt. / Das tut meiner Liebe weh.
Las sie ihn mit ganzem Sinn / so fand sie Seligkeit, / tiefe Rede von Minne / welche Not ich im Herzen tragen.
Sie tat aber nicht so, / als hätte sie je von meiner Not erfahren. / Oh weh, Frau, reine, liebenswerte, / du verwundest mich sehr.
Die physische Konstitution von Menschen ist seit vielen Jahrzehntausenden in etwa die gleiche geblieben, ihre Persönlichkeitsstrukturen haben sich aber in dieser Zeit immer wieder etwas verändert. Die zweihundert Jahre neue, christlich-abendländische Lyrik ist Ausdruck eines solchen Veränderungsprozesses, dessen Spuren in uns immer noch mehr oder weniger nachleben.
Unser Lied beschreibt einen liebenden, der Minne dienenden Mann, der sich nach langer Zeit traut, sich seiner von ihm verehrten und begehrten Frau zu nähern, und zwar dort, wo sie regelmäßig und auch alleine auftaucht, nämlich beim Kirchgang. Mit seinem ihr heimlich zugesteckten Brief will er ihr seine Liebe gestehen, in der Hoffnung, dass sie ihn erhört.
Auch im Lied zum oberen Bild geht es um eine schon lange bestehende "Liebe" des Herrn, nämlich seit der Kindheit. Als sein Umfeld davon erfährt, bringt es ihn zu der Dame, die ebenfalls in Gesellschaft ist. Diese weist ihn zurück, weshalb er in Ohnmacht fällt. Um ihn zu "heilen" wird ihm die Hand der Dame in seine gelegt, was sie aus Mitleid duldet und was bei ihm große Glücksgefühle auslöst. Als sie das bemerkt, beißt sie ihm empört in die Hand, was bei ihm noch größere Glücksgefühle auslöst: Ir bîzzen was so zartlich, wîblich, fîn, / des mir wê tet, daz so schiere zergangen was. / Mir wart nie baz, daz muoz wâr sîn!
Die Verbindung von Lust und Schmerz im Koitus wird hier also schon im Biss erlebt, was die Pervertierung der Sexualität in der hohen Minne auf eine abstruse Spitze treibt, wie wir wenigstens heute empfinden. Um ihn dafür zu trösten, meint die Gesellschaft, die Dame solle ihm wenigstens irgendetwas schenken, worauf sie ihm eine Nadelbüchse hinwirft, verächtlich und mit den Nadeln auf Schmerzinstrumente verweisend. Auch das beglückt den Sänger in seiner selbstzerstörerischen "Liebe": In sender (sehnender) nôt wart ich so frô.
Die fast herzzerbrechende Szene, wie er sie selbst nennt, ruft aber erst tatsächlich Schmerz hervor, als er gehen muss (Strophen 10-12).
Die frouwe der Lieder leitet sich von dem altdeutschen Namen für Herr ab, von welchem ein Rest noch in "Fron" erhalten ist, sie ist also hier eine Herrin. Wenn sie als "Weib" (wîp) benannt würde, wie es zum Beispiel Walter von der Vogelweide manchmal tut, hätte das in etwa die Bedeutung, die heute das Wort Frau hat (sie wäre "irgendeine" Frau, eher keine "Herrin").
Herr konnte man nicht ohne Knecht sein, ein Knecht war in der Regel jung, übte deshalb eine dienende Rolle aus und und war ursprünglich wehrhaft, d.h. auch bewaffnet. Der Knecht, aus dem sich der englische knight entwickelte, der Ritter also, war im deutschen Sprachraum ein Knabe, mittelhochdeutsch auch knappe, manchmal der Lehrling für den Ritterberuf, das professionelle Kriegerdasein, in Okzitanien war er der escudier oder donzel, der dem "Ritter" unmittelbar zu Diensten stand.
Dass Bauern „Knechte“ haben, kommt erst später mit der bäuerlichen Landwirtschaft, und es meint zunächst auch den unverheirateten jungen Mann, der (noch) kein produktives Eigentum hat, also nichts, was ihm eigenständige Produktion ermöglichte.