Die Welt als christliches Konstrukt

 

 

Die Welt als christliches Konstrukt

 

Das durch das Mittelalter anhaltende (römisch-katholische) Christentum ist seit dem 18. Jahrhundert immer mehr zurückgegangen und seit den Reformationen den Protestanten zunehmend und heute den meisten Menschen im (inzwischen mehr oder weniger) deutschsprachigen Raum unbekannt. Grundzüge des nachantiken Christentums sind aber eine Voraussetzung zum Verständnis dieser Zeit und sollen darum hier summarisch zusammengefasst werden.

 

*** Zwei Welten***

 

Sowohl frühe Kulturen wie die meisten antiken Zivilisationen konstruierten nur eine Welt. In Kulturen ist das wenig Erklärliche nicht "übernatürlich", sondern Teil ihrer erfahrbaren Wirklichkeit, mit der sie in Kulten kommunizieren.

In der antiken Welt leben die Götter oft auf Bergen, manchmal abgeschieden von den Menschen, begeben sich aber immer wieder auch zu ihnen herunter, kopulieren bei Griechen und Römern auch schon mal mit attraktiven Menschen und sind in ihren Abbildern in Kultstätten mehr oder weniger anwesend.

 

Als Erben der Kulturen, aus denen sie hervorgegangen sind, bilden Götter, die sich von Menschen vor allem durch ihre Unsterblichkeit auszeichnen, erlebbare Kräfte der Natur wie der unbelebten Welt ab. Das ändert sich im Judentum und dem daraus hervorgegangenen und sich bald in manchem immer mehr diesem wieder annähernden Christentum (und später auch in dem aus beiden hervorgegangenen Islam).

Der Gott der Juden und insbesondere auch der Christen existiert außerhalb der von ihm geschaffenen Welt, bei den Christen laut kirchlicher Doktrin in einer letztlich immateriellen Sphäre, die ermöglicht, dass er (eigentlich geschlechtslos wie die ersten Menschen vor dem Sündenfall) nicht nur unsterblich, also ewig ist, sondern auch, so er möchte, überall zugleich, zudem allwissend und allmächtig.

 

Bei beiden, Juden wie Christen (und später dem Islam), ist er nur zuständig für die, die an ihn glauben, er ist mit ihnen ein Bündnis eingegangen, in dem er die Gläubigen unterstützt und die Ungläubigen bestraft, und zudem sowohl Juden wie Christen eine schlussendliche "Erlösung" von Ungemach und Leid verspricht, die bei Juden eher eine irdische Komponente enthält, während sie bei Christen mit dem Ende der bekannten Welt die Gläubigen in sein Reich erlöst und sie damit so unsterblich macht, wie er selbst ist.

 

Solche Religion beschäftigt sich mit dem, was es in keiner Wirklichkeit gibt und wovon man ernstlich keine Kenntnis haben kann. Sie schließt die Lücken des Nichtwissens durch Erfindungen, von denen man hofft, dass sie eine gewisse Plausibilität deshalb haben, weil sie auf Fragen zumindest einzelner Menschen eine Antwort geben. Sowohl das Judentum der Priester, das Christentum der Kirche wie der Islam des Koran beruhen auf der Behauptung, dass sich am Anfang ein Gott Einzelnen geoffenbart habe, die das dann aufschrieben. Wer allerdings nicht imstande ist, die Existenz eines Gottes vorauszusetzen, muss das für eine Lüge halten. Dies ist aber durch die Geschichte gefährlich, da auf solchen Lügen sich ganze Zivilisationen aufbauen, die aus dem Bündnis von Propagandisten von Glaubenssätzen und Inhabern von Macht und Reichtum bestehen.

 

Solche Religionen behaupten, dass es eine Welt jenseits der Wirklichen gäbe, beherrscht von einem Gott, insbesondere bei Christentum und Islam auch von einem etwas irdischeren Teufel, und von allen möglichen Dämonen und Geistern, die immerhin man auch sinnlich wahrnehmen könne. Beide haben also imaginierte bipolare Welten, die volkstümlich im Deutschen als Himmel und Erde/Hölle bezeichnet werden. 

In diesem Konstrukt wird Wirklichkeit als stark vom Bösen beherrschte Natur definiert, weswegen die imaginierten Welten gerne als übernatürlich bezeichnet werden. Wir bleiben allerdings bei der sprachlich gegebenen Definition von Natur als Bereich des Lebendigen, also eines Ausschnittes aus Wirklichkeit, in die das Lebendige als Ausnahmefall auf unserem Planeten eingebettet ist, - Differenzieren erst schafft Erkenntnis.

 

Für diesen Abschnitt übernehmen wir allerdings kurz einmal den Begriff des Übernatürlichen im religiösen Sinn, da das Christentum im wesentlichen das Reich des Lebendigen, genauer die Menschen als durch die Sünde ins Unheil gestoßen der kirchlich vermittelten Erlösung zuführen will, das heißt, aus der irdischen Wirklichkeit erlösen möchte in eine Welt jenseits aller "Natur".

 

Zeitliche Welt als saeculum im Gegensatz zu himmlischen Sphären wird dann noch einmal in eine "weltliche" und eine "geistliche" Sphäre der priesterlichen Magier unterschieden, wie es Hrabanus Maurus in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts in Anschluss an Augustinus und Papst Gregor ("den Großen") macht:

In der Kirche gibt es drei Stände, den Stand der in der Welt Lebenden; d.h. der Laien, den der Mönche und den der Kleriker. (...) Dieser Stand nimmt in der Kirche die erste Stelle ein, weil es sein Vorrecht ist, heilige Dienste zu verrichten. (De institutione clericorum, I,2) Diese Unterscheidung trennt ordines voneinander, die keine Stände im späteren (deutschen) Sinne sind, wie es später auch die états der Franzosen werden.

 

Die christlich konstruierte irdische Welt findet wie jede andere irdische in der Zeit statt. Diese wird einmal begrenzt durch ihren Anfang vor mehreren Jahrtausenden, als Gott so etwas wie Welt überhaupt erst schuf und damit von seiner himmlischen Sphäre abgrenzte. Im Zentrum der irdischen Weltzeit steht die Geburt Jesu und seine Kreuzigung und Auferstehung, auch wenn man erst im sechsten Jahrhundert beginnt, die Jahre danach zu zählen. Letzte der Epochen, in die man die Weltzeit einteilt, ist die antik-römische, die das Frankenreich und dann auch das ostfränkische "römische" Reich fortführt, und die in durchaus absehbarer Zeit im Weltenende untergehen wird. Dieser von Gott herbeigeführte Weltuntergang, den man in der Offenbarung des Johannes beschrieben sieht, wird mal auf das Jahr 800, mal auf das Jahr 1000 verlegt. An seinem Ende soll dann das Weltengericht über die Menschen hereinbrechen. Dieses findet bekanntlich nicht statt und im Mittelalter lässt der Gedanke daran zunehmend nach.

 

***Gott***

 

Die Christen erben zunächst den jüdischen Gott, der sich bei Juden durch seine Strenge und Härte auszeichnet, und überhaupt nur mit ihnen verbündet ist. In den Evangelien bezeichnet Jesus ihn als seinen Vater und macht ihn so zu einem entsprechend väterlichen Gott, allerdings nur für seine, nämlich Jesu Anhänger. Im Vaterunser-Gebet ist er in zwei evangelischen Versionen überliefert.

 

Mit der frühchristlichen Annahme einer wie auch immer wortwörtlichen Sohnschaft Jesu teilt sich die christliche Gottesvorstellung in zwei Personen auf, was insofern bereits Probleme aufwirft, als das mit dem vorgegebenen Monotheismus mühsam in Übereinstimmung gebracht werden muss. Dazu kommt dann noch der Heilige Geist (pneuma hagion), der rund hundert Mal in den Evangelien auftaucht, und den die Oberen der Kirche dann ebenfalls qua Inspiration personalisieren. Dieser aber ist für die Kirche deshalb wichtig, weil er die heiligen Texte erst sakrosankt macht und dann deren Obere zu weiteren religiösen Überzeugungen inspiriert.

 

Der spiritus sanctus der Westkirche wird die Kirche schon alleine deshalb entzweien, weil Uneinigkeit darüber bestehen wird, ob er nur von Gottvater oder aber auch von Gottsohn ausgeht. Schwieriger wird durch die gesamte Nachantike die Frage bleiben, was die Sohnschaft eines Gottes eigentlich bedeuten könne, ist er doch auf Erden ganz Mensch, aber zugleich auch (irgendwie) Gott selbst. Das beginnt ganz früh mit Erklärungsversuchen, wie ein Gott in einer sehr irdischen Frau einen Sohn zeugen kann, wiewohl das antik-griechischem und antik-römischem Vorstellungsgut durchaus nahe kommt.

 

Dann wird weiter das Problem der zwei "Naturen", eher Wesenheiten Jesu als Christus in der Debatte bleiben, die sich dann mit dem Problem der Dreifaltigkeit des Einen verbindet: Er ist Mensch und Gott. Dabei bekämpfen sich frühe Cheftheoretiker der Christenheit so erbittert bis gewalttätig, dass schon Kaiser Konstantin als Herr von Konzilien, also Versammlungen der vornehmen Kirchenoberen eingreifen und durchgreifen muss, und noch Karl ("der Große") Machtworte sprechen wird. Erst im 10./11. Jahrhundert setzt sich dann die Ansicht durch, dass solche Sachen Angelegenheit alleine der Kirchen seien.

Inzwischen hat sich aber insbesondere in der späten Karolingerzeit eine zunehmende Abwertung des Menschen Jesus zugunsten des göttlichen Christus durchgesetzt, die sich zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert in den romanischen Christusbildern des Königs Christus, des triumphierenden Herrschers analog zu den irdischen Königs- und Kaiserdarstellungen wiederfinden wird. Menschlicher sind dann die Heiligen, denen sich die Gläubigen längst immer mehr zuwenden.

 

Der christliche Gott ist ewig, allwissend und allmächtig, was zwar bombastisch klingt, aber eben auch so unwahrscheinlich wie unvorstellbar ist: Er setzt sich soweit aus lauter Abstraktionen zusammen. Andererseits wird er nicht nur als Vater vermenschlicht, sondern auch als Partner der Gläubigen wie ein Mensch gesehen: Man kann ihn bitten, anflehen, mit ihm Tauschgeschäfte eingehen: wenn ich dies mache. gibst du mir jenes, er straft wie ein Mensch, er zürnt wie einer usw.

Als Allmächtiger hat er nicht nur die Kirche eingesetzt und die Menschheit in wenige Herren und viele Knechte eingeteilt, sondern auch in wenige Reiche und gar viele Arme. Bischof Eligius von Noyon predigt im 7. Jahrhundert folgendermaßen:

Gott hätte alle Menschen reich machen können; aber er wollte, dass es in dieser Welt Arme gebe, damit die Reichen die Möglichkeit haben, sich von ihren Sünden loszukaufen. (in: Neiske, S.23)

Gemeint ist, dass "die Reichen" Spenden (Almosen) an Kirche, Kloster oder seltener direkt an Arme geben, die als Bußleistung für ihre Sünden dienen. Dass das Zitat doppelt widersinnig ist, stört ihn nicht, bedingen sich einmal doch Armut und Reichtum notwendig gegenseitig, und heißt es zum anderen, dass Arme sich nicht loskaufen können und darum länger in der Hölle schmoren müssen.

 

Die Präsenz Gottes und eine nur sehr lückenhaft rationale Justiz machen es möglich, dass Eide und Gottesurteile die Rechtsprechung beherrschen. Der Meineid gilt nicht nur als schwere Sünde und Verbrechen, sondern wird entsprechend auch von Gott bestraft werden; im Gottesurteil wird gehofft, dass Gott selbst Recht spricht, wiewohl es zugleich Hilflosigkeit in der Urteilsfindung ausdrückt. "Die Religion dringt wieder in Gebiete vor, die in der antike bereits entsakralisiert und >rationalisiert< worden waren." (Angenendt(2), S.184)

 

Was die allermeisten nunmehr zwangsweise Gläubigen von alledem halten, bleibt unbekannt. Zu vermuten ist, dass sie das Gottes-Problem einfach von sich fernhalten, wird es ihnen ohnehin als solches nicht nahegebracht und mit jener Aura der Selbstverständlichkeit umgeben, die der Schutzschirm jeder Form von Gläubigkeit ist. Im Laufe der Nachantike, meist als Frühmittelalter bezeichnet, werden sie sich ohnehin den Kriterien der Anschaulichkeit und emotionaler Nähe zuwenden, und zunächst apostolischen und darauf folgenden Heiligen zuwenden, die man sich gut als Menschen vorstellen kann, und dann im (eigentlichen) Mittelalter zunehmend der immer menschlicheren Muttergottes und dann später dem sehr menschlichen leidenden Jesus zuwenden. Wenn dann im Zeitalter der späten Gotik Maria als ihr (Jesus)Kind säugende Mutter in spätgotischem Gewand dargestellt wird, hat die menschliche Seite erst einmal gewonnen, um dann im Barock neuen Entrückungen zu weichen.

 

***Leib - Seele - Geist***

 

Die Wörter Materie und Substanz repräsentieren den Wunsch der Menschen, die wirkliche Bewegung in Raum und Zeit in feststehende "Realität" zu verwandeln und somit alltagstauglich zu machen, sozusagen "handgreiflich". Nur mit diesem Denkmodell kann als Gegensatz auch "Immaterielles" gedacht werden, welches dann im Denken noch beständiger wird. Wer aber in griechischen Philosophenschulen wusste, wie fragwürdig jeder Materiebegriff ist, konnte eine - erfreulich unüberprüfbare - Ebene des "wirklich Handfesten" im Immateriellen suchen, dem Eigentlichen alles Materiellen. Das taten zum Beispiel Plato und die Neoplatoniker, und ihr Einfluss auf die Entstehung des Christentums ist unübersehbar. Daraus entsteht schließlich (sehr grob ausgedrückt) eine Theologie, die nur das Göttliche für wirklich hält, und das, was unser Text als wirklich bezeichnet, nur für einen üblen Abklatsch.

 

Die Trennung in Materielles (Irdisches) und Immaterielles (geoffenbartes Geistiges), an sich als reiner Denkvorgang zu erkennen, macht das Christentum aus und zudem abendländische Philossophie bis zu ihrem gemeinsamen Untergang im 18./19. Jahrhundert. Heiligen lässt sich dabei nur der "Geist", wiewohl (tatsächlich) immer den Köpfen von Menschen entsprungen, und zwar als der, mit dem "Gott" Menschen "inspiriert", denen er ihn also wörtlich "einhaucht". Als Ort dieses "Inspirierens" dient (verständlicherweise) nicht der Verstand, sondern eine schwer lokalisierbare Instanz im Menschen, welche von Christen als Seele bezeichnet wird. Dieser immaterielle, spirituelle Ort muss möglichst "rein"  (von Sünde bzw. Begierde) gehalten werden, da er im Idealfall ins ebenfalls immaterielle Himmelreich eingehen soll.

 

1115 schreibt der Mönch Guibert (Wibert) von Nogent in seinem 'De vita sua': Ubi enim carni jam nullatenus spiritus reluctatur, et infelicis animae substantia voluptatum dispendio profligatur. Also: Wenn der Geist nicht mehr gegen das Fleisch kämpft, wird die Substanz der Seele durch die Gelüste zerstört. (I,1)

 

Carne - spiritus - anima (Fleisch-Geist-Seele) bedeutet hier eine sehr christliche Aufspaltung des Menschen in drei Teile, von denen nach theologischer Ansicht die Seele unsterblich sein soll. Mit Fleisch ist wie schon im frühen Christentum der Körper/Leib gemeint, und zwar in lebendiger, also belebter (animierter) Form. Das belebende Element war bei den Hellenen die psyché gewesen, während bei den Lateinern der Leib "animiert" wird. Anima ( wie Psyche) ist darum nur sehr notdürftig neuhochdeutsch in "Seele" zu übertragen.

 

Die antik-lateinische Vorstellung einer Trennung von anima und spiritus ist dem antiken Griechisch so nicht gegeben. Im Latein der römischen Antike wird ein Verständnis auch nicht gerade erleichtert, wenn man weiß, dass spirare sowohl atmen wie hauchen und ähnliches bedeutet: Daraus entsteht die Vorstellung, dass das Leben und womöglich die Seele dem Körper ein- und ausgehaucht wird.

Unser Mönch hier benutzt spiritus jedenfalls als Bezeichnung jenes merkwürdigen Phänomens, welches im Verlauf des Mittelalters in der deutschen Sprache zu "Geist" wird, und zwar weg von jener altdeutschen Bezeichnung, von der noch etwas im englischen ghost im Sinne von Gespenst erhalten ist. Guibert meint ganz offensichtlich hier jenen Geist, der in unserem Text eher Verstandestätigkeit, Denken etc. meinen sollte.

 

Nun soll im christlichen Sinne der Geist gegen die Übermacht des belebten Körpers kämpfen, hier gegen das, was ihn besonders intensiv belebt, nämlich seine voluptas. Diese meint in der Antike die Lust und das daraus resultierende Wohlbefinden und wird unter christlichem Einfluss immer mehr in Richtung sexuelle Lust/Begehren reduziert.

Diese exemplarische Formulierung des Mönches Anfang des 12. Jahrhunderts engt also bereits ein, was den Kulturbegriff aller unserer Untersuchungen hier ausmacht: Die Zähmung menschlicher Triebhaftigkeit bedeutet offiziell für Christen vor allem die grundsätzliche Abwendung von Formen sehr irdischer Lust. Dass das nur von sehr wenigen überhaupt so praktiziert wird, ist offensichtlich.

 

Der Geist ist aber nicht nur germanisch, sondern auch christlich-lateinisch eine ausgesprochen unheimliche Größe, wenn er nicht (sehr menschliche) Verstandestätigkeit benennt, sondern als heiliger Geist (spiritus sanctus) auch von Gottvater ausgeht und so Teil einer göttlichen Dreifaltigkeit ist. Da er die erlauchten Häupter der christkatholischen Kirche unentwegt inspiriert, also ihnen korrekte Glaubensinhalte einhaucht (spirare), muss er magische Qualitäten haben, was es möglich machen wird, ihn auch von dem abzulösen, was vorchristliche Menschen der Antike schlicht und einfach als "Denken" erschließen können.

Besonders im Deutschen führt das dann zu merkwürdigsten Konstrukten: Spiritualisierung heißt dann plötzlich das tendenzielle Abschalten des Verstandes und das Aufkommen nebelhafter Pseudo-Begrifflichkeit. Wer dabei behauptet, eigene Meinungen seien nicht gedacht. sondern einer höheren Instanz entsprungen, macht nun jeden Diskurs unmöglich. Das gilt dann auch bis heute für die heilig gesprochenen Ideen politischer Ideologen, - und ist ein großartiges Machtinstrument.

 

Was im Mittelalter Substanz bedeutet, ein Gegenstand philosophischen Nachdenkens, lassen wir hier außen vor, auch wenn Guibert meint, dass das Nachgeben gegenüber der voluptas die Substanz der Anima zerstört. Diese anima als das belebende Moment des Menschen wird von der Christenlehre völlig verändert in eine merkwürdige und nirgendwo im Menschen eindeutig lokalisierbare Instanz, die aber kurioserweise das Eigentliche des Menschen ausmachen soll, seine Seele.

 

Wie in manchen anderen Bereichen führt die Christianisierung germanischer Begriffe ins Deutsche in besonderes Unheil, da sie (siehe am Beispiel: Geist) sehr Lebendiges über den Umweg des Lateinischen in starre Konzepte verwandelt. Sehr genau weiß man nicht, was ursprünglich unter der germanischen sela verstanden wurde, und die romanischen Sprachen sind hier insofern raffinierter, als sie klug unüberlegt beim Lateinischen bleiben, der âme der Franzosen oder der alma der Spanier - und damit frohgemut wieder die antike Bedeutungsbreite eines reichen Gefühlshorizontes einholen können, während der Deutsche glückselig nur sein kann, wenn er das vom germanischen salig ableitet, was im Deutschen dann etwas mit Glück zu tun hat und nichts mit irgendeiner Seele.

 

Wenn man notdürftig den Geist als Funktion des Verstandes verstehen kann, ist die christliche Seele als anima eine Erfindung der Kirche, die derzeit auch mit ihr untergeht und ersetzt wird durch jene, die schon im alten Hellas als psyché existierte, also Lebendigkeit als ein bewusster wie unbewusster (hirngesteuerter) Innenraum des Menschen - unter der Maßgabe, dass der Mensch eine Einheit bildet, die nur gedanklich für bestimmte Zwecke aufgespalten werden sollte.

 

Die unheilvolle christliche Zergliederung des Menschen besagt also, dass der unsterbliche eigentliche Mensch aus seiner "Seele"/anima besteht, deren Fähigkeit, in irgendeinem Himmel nach dem Tode weiter zu "existieren", wie auch immer, korrumpiert wird, wenn er nicht mit der Willenskraft seiner christlichen Einsicht irdisches Begehren seines Körpers (carne - Fleisch) möglichst niederkämpft. Was bei Guiberts Satz fehlt, ist die Konsequenz der Korruption der Seele durch das Fleisch, nämlich die Perspektive ewiger (!) Höllenqualen, die allerdings ganz eigentlich einen Körper voraussetzen.

 

Was wohl fast alle kirchengläubige Laien zumindest darunter verstanden, war nicht das unattraktive Weiter-Existieren einer körperlosen "Seele", sondern ein angenehmes leibhaftiges Weiterleben in irgendeinem Himmelreich in der Nähe Gottes und seiner Engelsscharen. (siehe weiter unten) Guibert selbst schreibt über seine verstorbene Mutter: (...) magis Deo praesens non negligit. (Wo sie sich schon vorher so gut um mich kümmerte), umso mehr kümmert sie sich um mich, seit sie in der Gegenwart Gottes ist. (I,3) In diese ist sie jenseits aller Theologie also ganz schnell gelangt...

 

Das "Fleisch" bzw. den Leib niederkämpfen ist Aufgabe nicht nur christlicher Askese, aus dem griechischen askesis für Übung abgeleitet. Das leisten schon frühe Eremiten in der ägyptischen Wüste, die möglichst wenig essen, sich minimal bekleiden, es an Hygiene im heutigen Wortsinn mangeln lassen und ihren Körper als Ort der Gelüste, insbesondere der geschlechtlichen, geißeln. Ihre Erben werden jene Mönche, die sich in klösterlichen Gemeinschaften von der "Welt" abschließen. Parallel dazu sollen Priester zwar in der Welt und für sie da sein, aber andererseits ebenfalls sexuell enthaltsam sein und möglichst in ähnlichen Gemeinschaften wie Mönche leben.

 

Ein wenig Askese sollen aber auch die Menschen "in der Welt" leisten, durch Fasten samt sexueller Enthaltsamkeit zum Teil über mehrere Wochen und vor dem Einnehmen der Kommunion. Überhaupt sollen sie ihre Begierden zügeln, was aber tatsächlich vor allem für die gilt, die ganz unten von einem Herrn abhängig sind. Guiberts Mutter ist keine Asketin, was sie in der Nachantike unter Umständen zur veritablen Heiligen gemacht hätte. Ein solcher ist der Eremit Hospitius gegen 600, von dem Gregor von Tours schreibt:

Er wand sich eiserne Ketten um den bloßen Leib und trug sein härenes Kleid darüber und er aß nichts als trockenes Brot und wenige Datteln. In der Fastenzeit nährte er sich von den Wurzeln ägyptischer Kräuter, wie sie dort die Einsiedler genießen; Kaufleute brachten sie ihm mit. Zuerst trank er die Brühe, worin sie gekocht waren, nachher genoss er sie selbst. (Historien, IV,6)

 

Man sieht, dass Einsiedler in der Regel nahe bei Siedlungen leben, aus denen sie versorgt und von deren Einwohnern sie bewundert werden können. Unübersehbar ist auch eine gewisse Eitelkeit in der Selbststilisierung, wenn denn Gregors Darstellung so stimmt. Daneben lässt sich die Lust am eigenen Leiden auch als (sexuelle?) Perversion verstehen, deren sexuelle Komponente in so mancher weiblichen Heiligenlegende dann auch deutlicher wird (wobei an dieser Abartigkeit dann die männlichen Autoren offensichtlich teilhaben).

 

***Erlösung in die Ewigkeit***

 

Was Göttern zur Zeit der Evangelisten gemeinsam ist und sie vor den Menschen auszeichnet, ist ihre Unsterblichkeit. Darüber hinaus sind der jüdische und der ihm langsam wieder ähnlicher werdende christliche Gott allwissend, allmächtig, gerecht, aber eben vor allem – ewig.

 

Der Tod aber ist neben dem Schmerz der Urquell aller menschlichen Angst. Seine Endgültigkeit irgendwie zu leugnen ist wohl schon ein frühes Unterfangen der Menschheit gewesen. Manche frühe Kulturen haben zum Beispiel ihre Toten mumifiziert und in der Nähe aufbewahrt – auf irgendeine Weise waren sie dann noch da. Andere hatten Vorstellungen von einem Jenseits (dieser Welt), welches viel mit den Wert-und Wunschvorstellungen der Menschen zu tun hatte. Germanen und viele andere gaben ihren Toten lebensnotwendige Sachen, Nahrung, Kleidung, Waffen usw. mit, auch damit ihnen der Übergang in dieses Jenseits ermöglicht oder erleichtert wird.

 

Juden verbrennen ihre Toten nicht, weil sie glauben, wenn der Tag der Erlösung käme, und zwar nur für sie, würde der Messias sie aufwecken, und sie würden dann in einem exklusiven Paradies für Juden wieder irgendwie leibhaftig zum Leben erwachen.

Der evangelische Jesus erklärt nicht wortwörtlich, er sei dieser Messias, aber seine Anhänger halten ihn irgendwann dafür. Nur ist er nicht mehr für jeden Juden zuständig, sondern nur noch für die, die so leben wie er, nachdem er dank des Täufers seine Mission entdeckt hat. Und sein Vater (nicht Joseph, sondern der da oben) würde, so sagt der Jesus der Jerusalemer Passion, dafür sorgen, dass sein Tod mit einem gewaltigen Donnerschlag diese Welt für seine Jünger ganz schnell in das paradiesische Jenseits verwandeln würde.

 

Das geschieht nicht, und er kommt nicht wieder, wie seine Anhänger zunächst dachten, um dies sein Werk zu vollenden. So bleibt nichts anderes, als auf Erden lebenslang auszuharren, so zu leben, wie Jesus das wollte, und das ewige Leben auf die Zeit nach dem Tod zu verlegen, von der niemand zurückkommt und erzählen könnte, dass es sich womöglich um eine vergebliche Hoffnung handelt.

 

Der Gott der Evangelisten ist bereits im Ansatz ein Richtergott. Er würde wissen, wer so wie die Apostel, die Anhänger Jesu also, für sein Himmelreich tauglich sei, und er würde alle anderen Leute seinem kontrapunktischen Kollegen, dem Teufel überlassen. Zu diesem Gerichtstag kommt es aber eigentlich erst mit dem vom christlichen Gott inszenierten Weltuntergang, denn Voraussetzung für das Jenseits für alle Gläubigen ist das Ende des Diesseits. Wann das sein würde, wird zwar immer mal wieder vermutet, aber Genaues weiß man nicht, auch wenn Gelehrte versuchten, ein genaues Datum zu berechnen.

 

Schon die Mittelmeer-Antike und der Nahe Osten kannten eine mythische Abfolge von Zeitaltern, beginnend mit einem goldente und dann absteigend mit der Bezeichnung durch jeweils weniger edle Metalle. Christliche Gelehrte führt das zur Benennung einer Reihe von Reichen in eher aufsteigender Linie, deren letztes das römische sei, welches dann auf die Nachfolgereiche übertragen wird. Am Ende steht immer noch das Weltengericht, welches in Zusammenhang gebracht wird mit der als Prophetie verstandenen sogenannten Apokalypse (Offenbarung) des Johannes.

 

Immerhin kommt man selbst auf höherer Ebene schon früh zu der erfreulichen Annahme, dass besonders Fromme es schon früher schaffen könnten, sozusagen vorgezogen würden, weil Gott sie besonders liebe so wie Jesus seinen Jünger Johannes. Heilige wandern nun ohne Umwege zu Gott, weswegen ihr Leichnam manchmal auch nicht verwest. Über Papst Stephan schreibt Lampert von Hersfeld um 1078,

er starb in Florenz und wanderte sicherlich, wie wir hoffen, aus diesem Tal der Tränen hinüber zu den Wonnen der Engel. Dafür zeugen die Zeichen und Wunder, durch die sein Grab in derselben Stadt bis zum heutigen Tag durch Gottes Fügung ausgezeichnet sind. (Annales zu 1058)

 

Um es noch einmal deutlich zu machen, der evangelische Jesus hatte zwar, selbst auferstanden, wie da nach seinem Tod behauptet wird, nicht von der Auferstehung der Menschen geredet, sondern von seiner Rückkehr in Kürze, mit der für die, die ihm bis dahin gefolgt waren, das Reich Gottes anbrechen würde, vielleicht ganz in jüdischem Sinne in dieser Welt und keiner anderen. Die Rede von der menschlichen Auferstehung von den Toten konnte erst einsetzen, als er nicht wiederkam. Nur darum entsteht die Kirche mit ihren magischen Mitteln und all das, was sich daraus ergeben wird. 

 

Die Trennlinie zwischen Attraktion und Schrecken der Sünde setzen der Tod und das (irgendwann) folgende Gericht, bei dem nach mittelalterlicher Vorstellung eine richtige Gerichtsverhandlung stattfindet, in der die Qualifizierung für das ewige Leben untersucht und bald durch heilige Anwälte auf Seiten des Sünders zu dessen Gunsten beeinflusst werden kann. Noch im 'Muspilli' des bayrischen 9. Jahrhunderts heißt es: In diesem Gericht ist kein Mensch so schlau, dass er sich freilügen könnte (dar ni ist eo so listic man der dar iouuiht arliugan megi). Sich in den Himmel Tricksen geht also nicht, und das verstärkt die Angst.

 

Für die Missionierung wird die Erwartung des allgemeinen Welten-Gerichtes als Weltuntergang tendenziell ersetzt durch die bald nach dem individuellen Tod einsetzende Gerichtsbarkeit für den jeweiligen Verstorbenen, was dem Drohcharakter der christlichen Botschaft auf den Einzelnen erheblichen Nachdruck verleiht. Noch das althochdeutsche und noch recht germanisch angehauchte 'Muspilli' beginnt in neuhochdeutscher Übersetzung folgendermaßen:

Und dann kommt für den Menschen der Tag, an dem er sterben muss. Wenn sich dann die Seele (sela) auf den Weg macht und die Leibeshülle zurücklässt, kommt eine Schar von den Sternen des Himmels, eine andere aus dem Feuer der Hölle (fona pehhe), diese werden um die Seele kämpfen. In Sorge muss die Seele dann ausharren, bis entschieden ist, welcher der beiden Scharen sie zufällt. Denn wenn das Volk des Satans sie erringt, dann führt er sie unverzüglich dorthin, wo nur Leid auf sie wartet: in Feuer und Finsternis. Das ist in der Tat ein grauenvolles Urteil. Wenn aber die, die vom Himmel her kommen, die Seele holen und wenn sie den Engeln zuteil wird, dann geleiten diese sie schnell empor ins Reich des Himmels (in himilo rihhi). Dort ist Leben ohne Tod und Licht ohne Finsternis, eine Wohnung ohne Sorgen, dort leidet niemand an einer Krankheit. Wenn der Mensch im Paradies eine Wohnung, im Himmel ein Haus erhält, wird ihm Hilfe in Fülle zuteil

 

Anhand dieses Textes mag man ahnen, wie germanische Völker missioniert wurden bis hin zum anschaulichen hus in himile, welches ihnen versprochen wird. Fast zweihundert Jahre vorher, so wird in der Vita des Friesenmissionars Wulfram berichtet, fehlt in dem Bekehrungsversuch an Friesenfürst Radbod die Hölle ganz, aber dafür ist die christliche nun von der germanischen Version von Walhal/Himmel kaum verschieden:

Als der erwähnte Fürst Radbod zum Taufempfang ermuntert wurde, fragte er den heiligen Wulfram, ihn unter Eid verpflichtend, wo die größere Zahl der Könige, Fürsten und Adeligen des Friesenvolkes sei: In jenem Himmelsaufenthalt, den er, Wulfram, ihm, wenn er glaube und sich taufen lasse, in Aussicht stelle, oder an jenem Ort, den er die höllische Verdammung nenne? Darauf der heilige Wulfram: Du sollst nicht im Irrtum bleiben, hoher Fürst! Für Gott ist die Zahl seiner Erwählten eindeutig. Deine Vorgänger, die Fürsten des Friesenvolkes, die ohne Taufsakrament verschieden sind, haben - das ist gewiss - ihr Verdammungsurteil erfahren; wer aber von jetzt an glaubt und sich taufen lässt, wird auf ewig in der Freude mit Christus sein. Als dies, so wird berichtet, der ungläubige Fürst vernahm, da zog er - er war schon zum Taufbecken geschritten - den Fuß vom Taufbecken wieder zurück und sagte, er könne nicht auf die Gemeinschaft mit seinen Vorgängern, den Friesenfürsten verzichten (...) er (...) bleibe lieber bei dem, was er allezeit mit dem Friesenvolk eingehalten habe. (in: Neiske, S.87f)

 

Wir ahnen, wie wenig "Glauben" man offenbar als Fürst in die Taufe einzubringen hat, deren handfestes Ziel die entsprechende Bekehrung des Volkes mit ihren politischen (Er)Folgen insbesondere für die Frankenherrscher gewesen wäre. Die Bekehrung der Friesen und Sachsen wird erst die Folge langer und blutiger Kriege dieser Herrscher.

 

Den schon über Generationen bekehrten Christen wird durch die Heilsmittel der Kirche die Perspektive gewährt, nach Ableistung der Sündenstrafen an der Ewigkeit Gottes teilhaben zu können. Auf höchstem theologischen Niveau ist dafür allerdings nur die Seele geeignet, denn Gott dort ist eine Art Geistwesen und nicht der physisch vorstellbare ältere Herr des Volksglaubens. Entsprechend ist der körperliche Mensch der Verwesung anheimgegeben und je frömmer der Christ, desto mehr soll er ihm Verachtung entgegenbringen und als Mann vor allem sich nicht von weiblichen Reizen täuschen lassen. Das bewegt die heiligsten Herren der Kirche schon mit Augustinus, der mit Ekel darauf verweist, dass der Mensch direkt zwischen Urin und Fäkalien geboren wird, was den naturgemäßen Sehnsuchtsort des männlichen Gliedes wenig attraktiv erscheinen lässt, was er im Zustand fehlender Geilheit wohl auch ist.

 

Und so kann Abt Odo von Cluny, der frömmsten und mächtigsten einer im 10. Jahrhundert, denn auch formulieren:

Die Schönheit des Körpers besteht allein in der Haut. Denn wenn die Menschen sähen, was unter der Haut ist, (...) würden sie sich vor dem Anblick der Frauen ekeln. Ihre Anmut besteht aus Schleim und Blut, aus Feuchtigkeit und Galle. Wenn jemand überdenkt, was in den Nasenlöchern, was in der Kehle und was im Bauch alles verborgen ist, dann wird er stets Unrat finden. Und wenn wir nicht einmal mit den Fingerspitzen Schleim oder Dreck anrühren können, wie können wir dann begehren, den Dreckbeutel selbst zu umarmen. (So in: Huizinga, S.194)

 

Für die meisten Menschen ist allerdings das Angebot ewigen Lebens als körperloser Seele wenig attraktiv, und so duldet die Kirche und fördert dann auch, dass der Volksglaube wie auch der hoher Geistlicher die Vorstellung einer Auferstehung des Leibes wie beim Gottessohn vorzieht, und zwar im optimalen Zustand jugendlicher Kraft und Schönheit.

 

Natürlich wissen die antiken und nachantiken Menschen, dass auch Christen in ihrem Grab verwesen. Auch wenn sie nicht vom Schwert zerstückelt, von der Lepra zerfressen oder vom hohen Alter gebeugt waren, blieb eigentlich à la longue nicht viel von ihnen übrig. Aber der evangelische Jesus hatte schließlich, behauptet die Kirche, die Auferstehung des Leibes versprochen und auch selbst vorgemacht. Den Laien, also fast allen, kann man aber bald kein ewiges Leben als Kranker, Zerstückelter oder gebrechlicher Greis als Angebot für den Glaubenswechsel und die Unterwerfung unter Kirche und weltliche Macht machen.

 

Neben diese Vorstellung von einer leiblichen Auferstehung tritt nach und nach, wie schon das 'Muspilli' zeigt, die von einer Unsterblichkeit dessen, was die Griechen psyche nannten, die Römer anima, und was dann in germanischen Sprachen als Seele übersetzt wird. Diese entweicht mit dem Tod aus dem Körper und landet entweder bei Gott oder allen Teufeln. Der Körper ist dann als toter „entseelt“, ein Ausdruck, der sich gehalten hat. Die Seele wird für immateriell gehalten (quasi) wie der Atemhauch, ist aber zugleich durchaus glücks-und leidensfähig. Allerdings ist der Gedanke von der Unsterblichkeit der Seele weder vorstellbar noch darstellbar und darum eher ungeeignet bei der Propagierung des Christentums.

 

Die Vita des Erzbischofs Brun, des Bruders von Kaiser Otto d.Gr., berichtet davon, er habe sich auf dem Sterbebett "neugierig auf die Bekanntschaft mit vielen berühmten Männern gefreut, die er im Paradies machen werde." (WGoez, S. 79) Kaum vorstellbar, dass er damit immaterielle glückselige Seelen gemeint haben könnte. Adam von Bremen wird entsprechend im 11. Jahrhundert in seiner Hamburgischen Kirchengeschichte schreiben:

Wenn auch die Heiden nicht an die Auferstehung des Fleisches glauben, so ist an ihren Bestattungen doch bemerkenswert, dass sie nach Art der alten Römer Gräber und Leichenfeiern ehrfürchtig achten. (in: Neiske, S.109)

 

Die Dualität von Leib und Seele/Geist wird konstitutiv für das Christentum der Gebildeten, während sie für germanische Völkerschaften zunächst nicht einmal sprachlich darstellbar war. Zudem sind die Höllenqualen, mit denen der neue Gott beim Auslaufen der Antike zunehmend droht, für die zu Missionierenden als körperliche Torturen wesentlich überzeugender als irgendeine Seelenpein.

Noch bei Otto von Freising taucht die Vorstellung einer doppelten Auferstehung auf, duas esse resurrectiones animae videlicet  et corporis. (Chronik VIII,10, S.604)

 

Zwischen Papst Gregor ("dem Großen") und dem ersten Millennium wird von zahlreichen "Visionen" berichtet, die das Jenseits beschreiben. Inwieweit solche Texte durch Predigten unter das Volk kommen, bleibt unklar.

Dazu gehört die von Walahfrid Strabo 824 in Gedichtform gefasste 'Visio Wettini', in der dieser auf dem Sterbebett durch die Unterwelt/Hölle wandert. Neben vielen anderen Prominenten sieht er dort auch Karl ("den Großen"), der als Lüstling von einem Tier, welches die Teile der Scham ihm zerfleischte, gequält wird. Diese Qual muss er leiden, weil er durch schändliche Wollust die guten Taten besudelt und geglaubt hat, es tilge die Menge des Guten die Lüste. Deshalb gedachte er so in gewohnter Sünde zu leben bis an sein Ende. (in: Neiske, S.69)

 

Gott und sein Reich sind jenseits von Zeit und Raum und damit menschlichem Vorstellungsvermögen eigentlich nicht zugänglich. Im Grunde gilt das auch für die Hölle, die aber nach der Antike an Format und Anschaulichkeit immer mehr zunimmt, da sehr alltägliche Folterqualen nicht nur die Phantasie beschäftigen. Ewige Seligkeit hingegen ist nicht vorstellbar. Sie ist auf Erden nicht zu haben, und wenn man sich dann aus dem irdischen Leben dafür das herauspickt, was einem besonders gefällt, nimmt die Kirche das hin, die Gebildeten in ihr wissen aber, dass der unaufhörliche Gesang der Engel, die Abwesenheit materieller Not und ähnliches Hilfskrücken für die schlichten Gemüter und die zur Dummheit Geborenen und Erzogenen sind.

 

Was für (ein wenig) philosophisch geschulte Theologen eine jenseitige Welt der Vergeistigung und der unirdischen Abstraktionen ist, was immer das sein mag, stellt die Kirche der Masse der Christen relativ bald als paradiesische Zustände in einem einladend paradiesisch ausgestalteten Himmel vor, also das absolut gesetzte Gegenteil der irdischen Welt, die für die meisten damals nicht zuletzt Mühsal und Arbeit, Kummer und Leid bedeutet. Damit sie das alles so recht genießen können, stellen sie sich den "Himmel" gerne als Ort vor, wohin sie vom Tode wieder leibhaftig "auferstehen" werden, wie das von ihrem zum Christus gewandelten Jesus (angeblich) als erstem Modellfall vorgemacht wurde.

 

 

In der vom Anfang des 9. Jahrhunderts stammenden Trierer bebilderten Handschrift der Apokalypse, also der Offenbarung des Johannes, thront Christus als richtender Gott, assistiert von einigen Engeln, und unter ihm werden die gerade Auferstandenen als recht jung, gesund und munter abgebildet, natürlich nackt wie im ersten Paradies.

 

Darunter, neben dem Engel, der die für das Himmelreich Untauglichen dem bzw. einem Teufel übergibt, wird gezeigt, wie einfach der Zustand der gerade Auferstandenen aufzupolieren ist: Ein Engel befiehlt einem kopflosen und auch sonst in schlechtem Zustand befindlichen Auferstandenen, sich in die angemessene körperliche Verfassung derer über ihm zu begeben, in der alleine man vor Gott zu treten hat.

 

In seiner 'Vita sua' beschäftigt das Anfang des 12. Jahrhunderts Gilbert (Guibert) von Nogent im Zusammenhang mit Betrachtungen über die körperliche Schönheit seiner Mutter:

Man sagt auch, dass unsere Körper, einmal unter die Auserwählten eingereiht, nach der Pracht des Körpers Christi gestaltet werden, und zwar so, dass die Hässlichkeit, durch einen Unfall oder durch natürliche Verwesung zugezogen, verbessert wird, wenn wir übereinstimmen mit dem auf dem Berge transfigurierten Sohn Gottes. (Ad hoc etiam nostra electorum corpora corporis claritati Christi configuranda dicuntur, ut foeditas, quae casu seu naturali corruptione contrahitur, ad regulam transfigurati in monte Dei Filii corrigitur. (Guibert, S.14)

 

Ähnlich äußert sich mehr als eine Generation später Otto von Freising zur Auferstehung der vera corpora in vera carnis substantia (Chronik VIII,27): Alle werden laut Augustinus auferstehen in jugendlicher Frische, und wer missgestaltet war, wird von Gott dafür geschönt werden. Frauen werden wie Männer auferstehen, aber die weiblichen Glieder  (membra feminea) werden nicht dem früheren Zweck angepasst sein, sondern der neuen Schönheit. (Chronik VIII,12, S.608) Es soll die Geschlechter weiter geben, aber nun wieder im paradiesischen Zustand fehlender Triebhaftigkeit.

 

Das ist die großartige Einladung der Kirche: Der Tod ist nun nur noch der Übergang in eine zweite Welt phantastischer Wunscherfüllung und nicht mehr das Ende, - eher der eigentliche Anfang. All das ist zwar widersprüchlich und inkonsistent, unter anderem weil man eigentlich für all diese Annehmlichkeiten auf die Wiederkunft Jesu warten muss, der der erfahrbaren Welt ein Ende macht, mit dem auch alle nicht für ein himmlisches Leben vorgesehenen Menschen in irgendeinem Orkus verschwinden. Und dann ist da noch ein zweites Problem, denn es gibt ein doppeltes Jenseits neben dem einen erfahrbaren irdischen: Zum Himmel gesellt sich die Hölle und laut Paulus und den Evangelien ist letztere für die meisten da.

 

 

Wie nun wird man zu dem Menschen mit seinem (irdischen) Leben, dem laut einiger Theologen entweder ewiges Leben oder ewiger Tod droht, und laut den meisten entweder Himmel oder Hölle? Diese meisten sind im neunten Jahrhundert wie Hrabanus Maurus oder Hincmar von Reims der Ansicht. dass der Mensch durch die Taufe die Freiheit gewinnt, Gutes oder Böses zu tun, also durch seinen Lebenswandel für Himmel oder Hölle bestimmt wird. Wer sich wie der sächsische Grafensohn und Mönch Gottschalk stärker an Augustinus orientiert, bezweifelt das und zieht aus Gottes Allmacht und Allwissenheit den Schluss, dass das Schicksal des Christenmenschen ohnehin göttlich vorherbestimmt ist: Die einen sind Gegenstand seiner Gnade, die anderen nicht. Als Gottschalk 847 eine Mainzer Synode mit diesen Ansichten provoziert, wird er abgelehnt und ausgepeitscht. Wenige Jahre später wird er in einer Abtei eingesperrt und mit einem Lehr- und Schreibverbot belegt. Der Konflikt über dies Thema wird aber mehr oder weniger unterirdisch durch die Jahrhunderte bestehen bleiben, um dann in den großen Reformationen wieder machtvoll aufzutauchen.

 

Wo immer Menschen die Wunschvorstellung von einer leiblichen Auferstehung mit möglichst optimalem Körper haben, muss es ihnen schwergefallen sein, auf Grabbeigaben zu verzichten, und die letzten tun dies im Frankenreich erst im 7./8. Jahrhundert, offenbar getröstet durch die Vorstellung, dass in himinam alles im Überfluss vorhanden sei.

Damit der Übergang in dieses himmlische Paradies möglichst ohne (großen) Umweg erreicht wird, ist zunehmend neben der Anwesenheit der Verwandten die priesterliche Begleitung vonnöten, denn gute Engel und böse Dämonen werden bald um die arme Seele kämpfen, und dabei helfen ihr Gebete und das Begießen mit heiligem Öl, welches immer magischere Kraft gewinnt. Wichtig ist auch eine letzte (und nun möglichst offenherzige) Beichte samt aufrichtiger Reue und zuvor ein Testament, in dem man Kirche und Kloster und damit auch die Armen bedenkt.

 

Wer einflussreich genug ist, kann auch, wenn er den Tod nahen sieht, für die letzten Tage oder Wochen ins Kloster gehen, um seine Chancen hinsichtlich einer himmlischen Zukunft als Kurzzeitmönch noch zu verbessern.

Der Hölle verfallen sind allerdings alle Selbst"mörder", denn der Suizid gilt als

Todsünde und nimmt einem die Möglichkeit des Begräbnisses in "geweihter Erde", schließt einen also auch postmortal aus der Gemeinde aus. Spätestens im 10. Jahrhundert werden nämlich nicht nur Kirchen, sondern auch dazu gehörende Friedhöfe geweiht.

 

 

*** Hölle und Teufel***

 

In der antiken Welt der Römer verschwindet für Gläubige das, was vom Menschen nach dem Tod übrigbleibt, in der Schattenwelt des infernus, wörtlich der Unterwelt. Im germanischen Raum ist das hel oder hella,  in späterem Deutsch Hölle, oder italienisch inferno zum Beispiel.

 

Tatsächlich entsteht die Hölle aus dem Hades/Tartarus der römischen bzw. griechischen Antike und hat mit dem evangelischen Jesus und seinen jüdischen Vorgaben nichts zu tun. Christlich gewendet wird daraus im 6./7. Jahrhundert der (wohl riesige) unterirdische Folterkeller, in den alle die Toten gelangen, die entweder zu viel gesündigt oder aber nicht genügend die von Gott der Kirche verliehenen Heilsmittel genutzt haben. Damit werden aus den zwei Welten dann eben doch drei.

 

Chef im (christlichen) Höllenreich ist der Teufel. Als Satanas ist er bei Juden der „Widersacher“ Gottes gewesen, sein Gegenspieler, und bei den zu bekehrenden Griechen wird diese Vorstellung recht wörtlich in den diabolos übersetzt und in seinen Verballhornungen wird dieses Wort dann für die Germanenmission übernommen.

Ei nen Teufel kannten die Griechen, Römer und Germanen wohl nicht, wie auch keinen Sündenbegriff. Dafür kannten sie wie alle Indoeuropäer eine Zwischenwelt zwischen Menschen und Göttern, gute und böse Phantasie-Wesen, Feen, Dämonen usw. Dieser Volksglaube wird durchs Mittelalter anhalten, aber die Kirche wird danach streben, dem (sehr eingeschränkten) Monotheismus und der geistlichen wie weltlichen Monarchie auch einen solistischen Bösewicht hinzu zu gesellen, einen "Mono-Satanismus" sozusagen einzurichten, was Christen aber nicht hindert, überall tausend Teufel am Werk zu sehen, ist die Welt des evangelischen Jesus wie seiner jüdischen Zeitgenossen doch schon von teuflischen Dämonen durchsetzt, die niemand so wie er austreiben kann.

 

Abgeleitet wird die christliche Teufelsvorstellung aus der jüdischen Paradiesgeschichte, in der (der jüdische) Gott mit Adam und Eva zwei Menschen "nach seinem Ebenbild" schafft, was immer das bedeuten mag. Jedenfalls sind sie zugleich Mann und Frau und doch ohne Geschlechtstrieb, da noch unsterblich. Der böse Widersacher Gottes, später auch als aus dem Himmel gefallener Engel des göttlichen Hofstaates beschrieben, verdirbt die Unschuld der Menschen, indem er Eva dazu verführt, Adam zu verführen, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu pflücken bzw. zu essen,  mit der das Böse selbst in die Welt kommt.

Die Paradiesgeschichte als bildhafte Vorstellung des Austritts des Menschen aus der paradiesisch vorgestellten Natur und Eintritt in die Mühen der Kultur bzw. Zivilisation bestimmt diesen Punkt als den des Beginns eines sich selbst reflektierenden Denkens, also den der Textproduktion.

Die dazu gehörige sexuelle Komponente besagt, dass in/mit dem Bösen ein Begehren in die Welt kommt, welches sich praktisch dazu fügt, dass die Menschen als Strafe Gottes ihre Unsterblichkeit verlieren und nun zur Fortpflanzung gezwungen sind, welche bekanntlich nun durch Lustgefühle motiviert wird.

Der Koitus ist für die jüdischen Priester-Redakteure dieser Geschichte noch keine Sünde, da ihrer Ansicht nach das (jüdische) Volk Gottes sich (in dessen Auftrag) fleißig zu vermehren hat; ihr Augenmerk liegt auf der Erkenntnis als Unterscheidung zwischen gut und böse, die sich Menschen unbefugt angeeignet haben, obwohl sie inzwischen jüdisches Priestermonopol sein soll.

 

Die Verbindung von Geschlechtstrieb, sexueller Lust und Sünde entwickeln erst frühe Kirchenlehrer. Die von Jesus angebotene Rückkehr ins Paradies und nun eher in den "Himmel" bedeutet erneute Unsterblichkeit und damit das Ende sexuellen Begehrens. Die Vorbereitung darauf auf Erden gelingt um so besser, je mehr man dies Begehren unterdrückt und wenigstens nicht auslebt.

Dabei geht es um die menschliche Besonderheit, dass die Fortpflanzung mit einem besonders ausgeprägten Lustempfinden gekoppelt ist, welches schon das Begehren zu einem von ausgiebiger Schmerz-Lust-Erfahrung machen kann, die von der kirchlich geforderten Hinwendung zu Gott ablenkt, indem sie die Menschen auf sehr Irdisches konzentriert.

 

Als erste und zentrale Sünde setzt sich also bald die sexuelle Unzucht (fornicatio) durch, wobei man das deutsche Wort auch mit Disziplinlosigkeit umschreiben könnte. Damit wird der Teufel in hohem Maße zum Vertreter des sexuellen Begehrens, was sich volkstümlich in seinem animalischen Pferdefuß und seinen ebenso animalischen Ausdünstungen niederschlägt.

 
Hier verbinden sich nun Eva als Verführerin des Mannes und der Teufel, der sich ihrer bedient. Am männlichen Begehren ist die Frau schuld, „weil“ sie es, so heißt es, im Mann entzündet. Die Frau, die das forciert, ist mit dem Teufel im Bunde. Damit wird das Teufelsbild aber im Laufe der Zeit zunehmend schwanken zwischen dem abstoßend hässlichen und dem attraktiv-charmanten Bösen. Nur in letzterer Rolle taugt der Teufel ja als Verführer insbesondere der Frau, die dann den Mann verführt. Damit wird ein jüdisches Frauenbild zu einem christlichen.

 

Denn der Teufel, meist in der Mehrzahl, ist nicht erst für die Hölle zuständig, sondern bereits auf Erden ähnlich allgegenwärtig wie Gott, ist doch die Erde sein eigentliches Reich, so wie das Paradies das Reich Gottes ist. Nur so ist verständlich, warum der evangelische Jesus versprochen hatte, seine Wiederkehr mit der Zerstörung der irdischen Teufelswelt zu verbinden.

 

Dass das "Böse" mit dem Teufel und dann immer mehr Teufeln personifiziert wird, hat sicher mit dem Ende der antiken Theologie und der Mission in den germanisch angeführten Nachfolgestaaten zu tun, damit eben auch mit dem Niedergang der Städte und der zunehmenden Illiteratheit der Menschen. Sehr präsent werden die Teufel in den (von Kirchenleuten verfassten) Texten aber erst mit dem langsamen Einstieg ins Mittelalter im 9./10. Jahrhundert.

Seitdem ist der Teufel überall, was daran liegt, dass er zwar wie Gott nur einer ist, aber zugleich nicht nur in dreierlei Gestalt, sondern in unzähligen Exemplaren auftritt. Bei Guibert von Nogent wird berichtet von Horden von Teufels, die sich nächstens auf dem Friedhof eines Klosters tummeln. (De vita sua, I,25).

 

Zu den kirchenchristlichen Vorstellungen gehört auch, dass man nicht nur vom heiligen Geist inspiriert, sondern auch vom bösen Geist besessen sein kann, weswegen zu den niederen Ämtern in den Kirchen auch nach Möglichkeit wenigstens ein Teufelsaustreiber, Exorzist, gehört. Dieser liest dann rettende Formeln vor, manchmal wohl von anderen Ritualen begleitet.


Die Vorstellung vom Regiment des Teufels und den Höllenqualen setzt sich, wenn man allem, was überliefert ist, glauben kann, langsam immer mehr durch und wird von Königen und Bauern offenbar gleichermaßen „geglaubt“. Wenn dann auf höchster Ebene Papst Gregor VII. im Streit mit Heinrich IV. die Welt auffordert: Versucht ihn in jeder Weise der Hand des Teufels (de manu diaboli) zu entreißen, wo doch die Möglichkeit besteht, dass er es lieber dem Teufel als Christus zu folgen vorzieht (in Laudage/Schrör, S.129), so wird deutlich, dass an dem Teufel wohl auch in höchsten Kreisen kein Zweifel besteht. Und wenn das den König wenig beeindruckt, dann nicht, weil er nicht an das göttliche Gericht und die Höllenqualen glaubt, sondern eher den Papst für vom Teufel besessen hält.

 

Der Teufel des Mittelalters hat eine Doppelgestalt: Einmal ist er auf Erden der Verführer, der Anbieter zahlloser Verlockungen. Andererseits ist er aber auch in der Hölle der grausame Folterer und Sadist. Hier ist der Vorgang der einsichtsvollen und so tradierten Verzichtsleistungen im Prozess der Kultivierung des Menschen institutionalisiert durch die erweiterten und neuen Verzichtsleistungen im Prozess der Zivilisierung.

 

Den härtesten Kampf gegen den teuflischen Verführer liefern Mönche seit den frühen Eremiten in der Nacht, wenn erotische Träume von Samenergüssen begleitet werden und die ein Johannes Cassianus schon als üble Befleckung männlicher Reinheit ansieht.

Kurz zuvor wird im 'Leben der Juraväter' ein Diakon vom Teufel, der mit anderen Mitteln scheitert, in der Gestalt zweier Mädchen bedrängt, um den keuschen Diener Gottes zu Fall zu bringen (...) Die Mädchen ließen ihre nebelleichten Kleider fallen. Dann rückte der Feind die weibliche Blöße genau in das Blickfeld des Dieners Christi, wohin er auch seine Augen wenden mochte. (in: Neske, S.125)

 

Dabei verkörpert das Böse als Teufel oder ganzes Reich von Dämonen das insbesondere bei Mönchen Verdrängte und Verleugnete des Menschen, das unterirdisch Gewordene, was gleichwohl beziehungsweise gerade darum mit besonderer Macht ständig nach oben strebt.

Das Augenmerk richtet die Kirche auf das Medium, durch das der Teufel vor allem Zugang zu den irdischen Menschen gewinnt, das sexuelle Begehren als Begehren von Lust, das größte Laster des Menschen, der Urquell seiner Sündhaftigkeit. In den Bußbüchern zwischen 600 und 1000 beziehen sich fast die Hälfte aller Verbote und Bestimmungen auf Sexuelles.

Der Auftrag aber, jede Art von Fleischeslust möglichst weitgehend abzutöten, und überhaupt alle Lasterhaftigkeit abzudrängen, schafft eben eine Unterwelt, in der sie aufgehoben bleibt. Dies ist eine Welt, die in bizarrsten Bildern und Geschichten in mehr oder minder pervertierter Form immer wieder nach oben drängt.

 

Die Hölle, die sich Menschen in den christianisierten Machtstrukturen tatsächlich schaffen, wird so transponiert in eine Welt sadistisch quäll-lustiger Teufel, denen keine Folter und keine Form der Peinigung fremd ist, und kaum versteckt tauchen da immer Anteile sexueller Aggression oder masochistischer Sehnsucht auf. (Siehe das spätere Kapitel über romanische Kleinplastiken)

 

Den besten Weg an der Hölle vorbei direkt ins Himmelreich demonstrieren jene mittelalterlich ausgeformten, legendär-antiken Märtyrerheiligen, fromme Glaubenszeugen, die diese Qualen bereits auf Erden hinter sich bringen: Von Pfeilen durchbohrt, verbrannt, zerschnitten, mit abgezogener Haut, abgeschnittenen Brüsten oder was immer sonst eine durch Verdrängung unbewältigte Sexualität an Phantasien und realen Praktiken zustande bringt. Eine Alternative der nicht in die Hölle Verfolgten wird Selbstkasteiung, jener Teil der Askese, der nichts anderes als selbst zugefügte Qual ist, die in eine Lust verwandelt werden soll.

 

***Sünde***

 

Vorläufer einer christlichen Sündenvorstellung ist die jüdische vom Verstoß gegen die lange "mosaische" Gebots- und Verbotsliste. Im Christentum taucht dann davon nur noch ein Teil wieder auf. Es gibt spezifisch religiöse Sünden wie Gotteslästerung oder "unkeusche Gedanken", aber andererseits ist im Kern auch alles Sünde, was jenseits davon als Verbrechen gilt. Damit werden Missetaten, die sich gegen Elementaria des Zusammenlebens richten, wie sie alle Kulturen definieren, oder solche, die von Machthabern aus Eigeninteresse definiert werden, einer rationalen Auseinander-Setzung entzogen, denn sie sind nun Gottes Gebote, und weder mehr einfach Sitte und Brauch, noch einfach nur von Mächtigen durchgesetzt.

 

Der christliche Katalog der Laster bzw. in der kirchlichen Version, der Sünden, wird zugleich zu einem menschlicher Gelüste: Neben der sexuellen Lust gehört dazu jene Begierde, die als Völlerei abqualifiziert werden kann (Jesus hat wohl frugal geschmaust), als Besitzgier (Jesus hat Armut gepredigt), als Eitelkeit (Jesus wählt einen Esel statt eines Pferdes zum Ritt nach Jerusalem), als Stolz (dem Jesus als Gegenstück die Demut und Bescheidenheit vorlebte) usw.

 

Diese Laster bzw. Sünden im Katalog der Kirche sind die Mittel, mit denen der Teufel die Menschen im Irdischen gefangen halten und von der irdischen Pilgerschaft zu Gott abhalten möchte. Für die christliche Priesterschaft sind sie das Fundament ihrer Existenzberechtigung: Nachdem die Kindstaufe den Säugling formell und mit höchst magischen Mitteln dem Teufel entreißt und der Kirche zuführt, ermöglicht sie den Willigen mit Predigt und Zauberkräften den Weg zu Gott. Da dieser mit ständigen höchst natürlichen und zutiefst menschlichen Versuchungen gepflastert ist, bedarf es lebenslang stetig weiterer magischer Mittel der dafür Beamteten, um den Zugriff des Teufels abzuwehren bzw. zu kompensieren.

 

Erschwerend kommt zu alledem dazu, dass die Kirche längst den Geschlechtstrieb zum Urheber menschlicher Sündhaftigkeit erklärt hat. Deshalb wird ernstliches Streben nach Heiligkeit nur den Mönchen und Nonnen zugesprochen, während der gewöhnliche Sterbliche nur zu gelegentlicher Enthaltsamkeit aufgefordert ist, schließlich soll das Leben ja weitergehen. Schon alleine deshalb sollen die Menschen regelmäßig die von ihrem Gott verliehenen Gnadenmittel der Kirche in Anspruch nehmen.

 

Die Menschen leben stärker als je zuvor im inneren Zwiespalt, müssen den aber für die Bewältigung ihres mühsamen Alltages immer neu wieder aufheben. Bis ins hohe Mittelalter werden sie lernen, einmal zwischen dem, was sie sollen, und dem, was sie tun, zu trennen, und zum anderen diese Spaltung möglichst häufig zu ignorieren. Sie werden das in der Regel wohl weniger als Lüge betrachten, sondern als einzig praktikablen Weg ihrer Lebensführung. Dazu kommen dann die vielen Mittel, die zusätzlich zu den auf die Kirche beschränkten dazu verhelfen, Ausgleich zu schaffen für die unumgänglichen Sünden. Dabei wird in vielfältigen Formen ein Handel mit Gott eingegangen: Do ut des, ich gebe dir etwas, damit du mir dafür Erlösung von meiner Schuld anbietest. Das kann eine Spende des Reichen für den Armen sein, eine Schenkung an die Kirche, oder die Reue im Angesicht des Todes. Da geht dann das Kamel doch - nach Maßgabe seines Reichtums - durch das Nadelör, ganz entgegengesetzt dem, was der evangelische Jesus verkündet haben soll.

Fast alle sind allerdings sowieso inzwischen fast durchgehend von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang damit beschäftigt, ihren Lebensunterhalt, also ihr Überleben und den Luxus der Herren durch Bearbeitung des Landes und durch Viehzucht zu sichern. Vor allem daran hat sich weiterhin ihre religiöse Vorstellungswelt zu orientieren.

 

***Über- und unterirdische Machtkämpfe***

 

Der christlich konstruierte Gott der Kirche hat die Welt geschaffen, die Menschen ob ihres Sündenfalls gestraft und taucht dann in Gestalt seines "Sohnes" kurz einmal wieder auf, um diesen zu opfern und damit die Menschen einzuladen, im Glauben an ihn und in seiner Nachfolge bzw. in der Unterwerfung unter seine Kirche nach Erlösung aus dem irdischen Jammertal zu streben.

Soweit sie nicht bekehrt werden, überlässt er die Ungläubigen ihrem Unheil und muss sich um die wahrhaft Gläubigen keine Sorgen mehr machen, sondern eher über die Halbheiten der meist weniger Frommen. Im Laufe der ersten kirchlichen Jahrhunderte beginnt er immer wieder einmal auf Seiten seiner gläubigen Anhänger auf Erden zu intervenieren - gerade so, wie schon der jüdische Gott.

 

Aber das Eingreifen Gottes, welches Menschen der Nachantike und des Mittelalters immer wieder herbeibitten, als Hilfe gegen Dürre oder Überschwemmung, gegen Heuschrecken und Krankheiten, dürfte tatsächlich eine zwiespältige Angelegenheit geblieben sein, und wird in dem Wort "Wunder" auch als Ausnahmephänomen wahrgenommen.

Mit dem göttlichen Reich des Übernatürlichen wird nicht nur in Kirchenräumen kommuniziert und dabei Magie der Priester zelebriert, die Menschen insbesondere auf dem Lande scheinen alltäglich mit ihm in Kontakt zu stehen, wobei es auch Experten jenseits der Kirche zu geben scheint. Beide, Kirche und Volk, vereinigen sich in Prozessionen, die um gutes Wetter für die Ernten, Rettung vor Heuschreckenplagen oder Sieg in Schlachten und Kriegen bitten. Ablehnend ist die Kirche, wenn es um Vernichtung der Nebenbuhlerin oder des bösen Nachbarn, um Fruchtbarkeit der Frauen auf unkirchlichen Wegen oder die Verehrung guter Feen geht. Kirche und Laien sind aber zusammen bei wundertätigen Reliquien und Heiligen, in der Verwandlung von Wein in Blut oder Wasser in Weihwasser im Kirchenraum, in der Austreibung von Teufeln und in der Weihung von Kirchen und zunehmend der Weihung von Königen.

 

Letztlich beherrscht der Teufel mit seinen höllischen Heerscharen die irdische Welt, die deswegen am Ende auch dem Untergang geweiht ist, und es bedarf der Kirche, um von heiligen, magisch geweihten Orten aus gegen ihn anzukämpfen. Schon die Legenden der Evangelien berichten von einem Jesus, der Dämonen ver- und austreibt und mit Wundern eine vernünftig konstruierte Welt außer Kraft setzt. Zudem ist sein "Vater" im Himmel jemand, bei dem alle Gesetze der Erfahrung und der Vernunft ohnehin aufgehoben sind.

 

Mit alledem kann sich die Kirche wie auch der sich daneben entwickelnde und langsam von ihr stärker beeinflusste Volksglaube in Vorgegebenes einbetten. Dabei verzahnen sich zwei Bereiche miteinander: Der Vernunftglaube antiker Philosophien und der Geister- und Wunderglaube der übrigen Menschen.

In Nachantike und (langem) Mittelalter ist so für Bischöfe wie Priester, für Reiche und Mächtige wie für Arme und Ohnmächtige die erfahrbare Wirklichkeit durchsetzt mit Geistern und Dämonen, besonders dabei mit Auftritten des Teufels, der offenbar viele Teufel unter sich hat, und zudem mit immer neuen Eingriffen Gottes in das Geschehen auf Erden. Mit alledem wird aus Unerklärlichem erklärbare Welt.

 

Wir haben also die auf menschlicher Triebhaftigkeit und Aggressivität beruhenden Macht-Kämpfe an der Oberfläche des menschlichen Lebens und die zwischen den göttlichen Mächten, in den Priestern handfest dargestellt, und den teuflischen, die die Menschen immer wieder befallen. Jenseits der Konfrontation mit der Kirche wird sich im Laufe der Zeit dabei eine bei den Menschen nur sporadisch auftretende Instanz in den Menschen herausbilden, die viel später im Deutschen Gewissen heißen wird. In ihm ist der Sündenkatalog internalisiert, und dort findet bei den Frömmeren der Kampf zwischen Begehren und Verbot statt, verstärkt durch das, was dem Ohnmächtigeren durch die Mächtigeren auferlegt wird.

 

***Re-Judaisierung: Der Gott des Krieges und des irdischen Erfolges***

 

Der Gott des evangelischen Jesus ist der der Juden, den dieser Wanderprediger massiv uminterpretiert und damit der Tempel-Priesterschaft entzieht, wie er ja auch ganz offensichtlich ohne deren Opferkult auskommt: Die Evangelisten bzw. ihre Redakteure halten am Ende seinen Tod für das einzige wirksame Opfer, wobei inzwischen das mosaische "Gesetz" der Juden zunehmend außer Kraft gesetzt ist.

 

Wie schon Paulus-Briefe bezeugen, sind die christlichen Gemeinden, die sich vor allem im östlichen Teil des Reiches bilden, auf dem Weg in den griechischen und dann auch den lateinischen Alltag: Ein kirchengesteuertes Christentum muss alltagstauglich werden, sich also in die Machtstrukturen, Arbeits- und Lebensgewohnheiten integrieren, wenn auch nicht ganz so wie das vorausgehende Judentum, aber eben doch recht ähnlich.

Als erstes wird, da die Kirche weiterleben möchte, die Fortpflanzung zwar als grundsätzlich sündhafter Akt betrachtet, aber als notwendig anerkannt, und damit das Ausleben des Geschlechtstriebes im Rahmen der vorhandenen Gesetze bejaht. Insbesondere Mädchen, die jungfräulich bleiben wollen, aber auch enthaltsame Witwen, die ihre generative Pflicht abgeleistet haben, gelten dabei als heilig, wenn sie sich derart konsequent Gott weihen. Entsprechendes gilt auch für die, die nun als Eremiten und dann in die neu entstehenden Klöster gehen.

 

Zu den vielen eher seltsamen Forderungen Jesu gehört die, die andere Wange hinzuhalten, nachdem man auf die eine geschlagen wurde. Diese völlig widernatürliche und psychisch unerträgliche Unterwerfung unter die Gewalt des anderen, eine Opferbereitschaft, die als Friedfertigkeit verstanden wird, ist im historisch (wenig) dokumentierten Christentum der ersten Jahrhunderte bald fast vollständig verschwunden. Ganz im Gegenteil: Christen tauchen auch in den brutalen und grausamen Amüsierveranstaltungen der Kaiserzeit auf, und es wird immer selbstverständlicher, dass sie auch Soldaten werden.

 

Mit der Legende von Konstantins Sieg über seine Gegner in entscheidender Schlacht "im Zeichen des Kreuzes" ist der jesuanische Gott dann endgültig in den jüdischen Kriegsgott, den Gott des Waffen- und Schlachtenglücks rückverwandelt, nur dass dieser inzwischen den Juden durch die Christen quasi weggenommen und aus dem Opferkult der Tempelpriester eine Priesterschaft geworden ist, die über andere magische Zaubermittel verfügt.

 

Schon zum jüdischen Kriegergott gehörten altjüdische Engel als seine Krieger, seit sie Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben haben und mit Gewalt eine Rückkehr verhindern. Die Militarisierung des Christentums, die bis in die Gegenwart anhält, formuliert in aller Deutlichkeit Karls ("des Großen") Diakon und späterer Abt Alkuin in einem Brief an den Papst:

Unsere Aufgabe ist es, mit dem Beistand der göttlichen Gnade die heilige Kirche Christi überall gegen das Eindringen der Heiden und die Zerstörungen durch Ungläubige nach außen mit Waffen zu verteidigen und nach innen mit Kenntnis des katholischen Glaubens zu festigen. Euch obliegt es, heiliger Vater, mit zu Gott erhobenen Händen wie Moses uns im Kampf zu unterstützen, damit durch Euer Eintreten, von Gott geführt und gefördert, das christliche Volk über die Feinde seines heiligen Namens überall und immer siege und der Name unseres Herrn Jesus Christus in der ganzen Welt verherrlicht werde. (Brief 93 in: Neiske, S.16)

 

Die Rückkehr des jüdischen Kriegsgottes in die christliche Sphäre, die selbst den Feindesliebe predigenden Jesus als triumphierenden Christus zu einem Erzkrieger macht und den Papst mit Moses gleichsetzt, spricht Bände über das, was mit dem armen Jesus in den Händen der Kirche geschehen ist.

 

Das teuflische Begehren einerseits und die Unterwerfung unter die himmlisch eingesetzten Vorgesetzten auf der anderen Seite findet seinen größten Widerspruch in der Beteiligung von Bischöfen und Äbten als oft bewaffneten Führern ihrer Heeresverbände in den Kriegen, wie sie besonders Karl ("der Große") anfordern wird. Noch im 10. Jahrhundert werden geistliche Herren die meisten königlich-kaiserlichen Heeresverbände anführen.

 

Widersprüchlich ist aber auch der christlich eingefärbte kriegerische Adel, in dem Stolz und christliche Demut kaum miteinander in Einklang zu bringen sind. Jedoch, durch das ganze Mittelalter hindurch werden nicht nur überzählige Kinder adeliger Familien ins Kloster gesteckt, ohne sie zu fragen, sondern es gibt immer wieder auch einige, die den Anforderungen aristokratischer Lebensführung aus eigenen Stücken entfliehen, das Schwert sogar wortwörtlich begraben wie der Heilige Galgano, oder früher Kapitalverwertung entkommen wie der Francesco von Assisi. Dazu kommen dann ältere Semester, die der eitlen Mühen dieser Welt überdrüssig werden und gegen eine Schenkung um Eintritt in ein Kloster bitten. Der berühmteste von ihnen wird wohl Kaiser Karl V. werden.

 

Und so wird das Mittelalter zwischen Aktivität, der vita activa, und kontemplativer Ruhe schwanken, aber geprägt wird es von Gewaltätigkeit, die legal ist als Fehde und Krieg, und illegal dort, wo sie die Machthaber verbieten, nämlich bei den jeweiligen Untertanen. Durch die Nachantike bis in die Schwellenzeit des 10. Jahrhunderts und oft auch noch darüber hinaus werden Äbte und Bischöfe für die Aufstellung von Heereskontingenten zuständig sein, die schließlich unter den Ottonen mehr als die Hälfte des gesamten Reichsheeres ausmachen. Sie ziehen nicht selten selbst mit Rüstung und Waffen in den Kampf und kommen gelegentlich auch darin um. Begründet wird das gerne wie im Judentum und Islam religiös und am Ende als heiliger Krieg, wie er dann in die Kreuzzüge gegen diverse Ungläubige münden wird.

 

Was nun für den Sieg in der Schlacht gilt, gilt auch für alle übrigen sehr irdischen Wünsche. Dazu gehören Machtvermehrung, Reichtum, die gute Ernte samt entsprechender Witterung, die Fruchtbarkeit der Frau und die Potenz des Mannes, eben alles, was gerade als legitimer Wunsch angesehen wird. Wer bis tief ins Mittelalter da "heidnischen" Kräften mehr zutraut, wendet sich an sie, und weil das nicht selten so ist, versucht die Kirche, dagegen zu halten, indem sie selbst solche Wunscherfüllung anbietet.

Dazu wird gebetet und es werden Prozessionen angeboten, in denen Regen angefleht oder ein Ende des Regens erbeten wird, es gibt Reliquien, deren Nähe Fruchtbarkeit oder die Heilung von Krankheit versprechen, es gibt Messen, in denen die Hilfe Gottes für diese oder jene Angelegenheit herbei zelebriert werden soll. Wenn sich der Wunsch dann nicht erfüllt, wird darüber beschämt Stillschweigen gewahrt, klappt es aber, wird das entsprechende Wunder gerne in einen frommen Text gefasst, der Gottes Wunderbarkeit feiert.

 

Von der evangelischen Feindesliebe, ohnehin nicht lebbar, bleibt also nichts übrig, aber auch ansonsten bleibt natürlicherweise von der Nächstenliebe nicht viel erhalten. Sie wird zur caritas, die auf das Almosen-Geben für Arme und Kranke reduziert wird, immerhin eine Neuerung gegenüber einer eher erbarmungslosen Antike. In der Nachantike wird daraus einmal eine eher schon eigennützige Bußleistung derer, die entsprechende Einkünfte oder Vermögen haben, und die Kirche fördert, dass sie solche Almosen empfängt, um sie dann mehr oder weniger weiter zu verteilen.

 

 

 

Die Praxis

 

***Konversion***

 

Die christliche Kirche ist spätestens seit dem 4. Jahrhundert in die Hände einer reichen und mächtigen Oberschicht gelangt, welche insbesondere das Bischofsamt nun als alternativen Karriereweg betrachtet und nicht immer unbedingt einer "geistlichen" Berufung folgt.

Um 400 beginnt von mehr oder weniger christianisierten Städten aus die Christianisierung des gallorömischen Landes mit dem Bau von Bethäusern und Kirchen durch Bischöfe und weltliche Herren. Inzwischen sind die rund 115 gallischen civitates allesamt Bischofsitze.

Dabei gibt es am Ende des West-Imperiums bereits mehr Geistliche als weltliche Verwaltungsbeamte und um 500 sind die Bischofskirchen oft bereits größter Grundbesitzer.

 

Nachdem das Königtum sich von der reinen Heerführerschaft durch Ansiedlung und Reichsbildung löst, ist die römische Westkirche hier zunächst die einzige Institution, die dem Ganzen nichtmilitärische Struktur bietet. Chlodwig lässt sich davon überzeugen, dass es der Verschmelzung der großen alteingesessenen Mehrheit mit der dünnen fränkischen Einwandererschicht zu einem Reichsvolk dienlich sei, die seit den späten Kaisern zum Bündnis mit der weltlichen Macht bereite römisch/katholische Kirche zur Staatskirche zu machen. Mit den Eroberungsversuchen über germanische Nachbarn im Norden und vor allem Osten kann nun Missionierung als Teil der Unterwerfung einsetzen.

 

Als Chlodwig die Spitzen seines Gefolges soweit hat, dass sie die Konversion mit ihrem Anführer bejahen, ist nirgendwo dokumentiert, dass sie viel anderes vom Christentum erwarten als einen siegbringenderen Schlachtengott. Als dann das "Volk" dazu gebracht wird, sich der neuen Religion anzuschließen, lässt sich vermuten, dass es zunächst kaum Missionierung gibt, sondern auch hierin Gehorsam gegenüber den Oberen und brav sich taufen zu lassen.

 

Die nunmehr bald überall analphabetischen und auf dem Lande oft noch kaum christianisierten Bevölkerungen treffen bei und nach ihrer Missionierung bald auf selbst kaum lesekundige Priester vor Ort und insbesondere auf dem Lande, und insbesondere die ungefähr 90% von Landbewirtschaftung lebenden Bauern erfahren von ihren Priestern oft wenig Christliches außer dem in seiner Substanz für sie unverständlichen Glaubensbekenntnis und dem Vaterunser. Erst im Mittelalter werden einzelne lesebegabte Interessierte in den wieder auflebenden Städten erste Inhalte der evangelisch- jesuanischen Botschaften neu entdecken, was sie dann nicht selten zu Häretikern bzw. Ketzern macht, die zu verfolgen und dann bald auch umzubringen sind.

 

Ein vor allem von römischem und germanischem "Heidentum" durchsetztes Christentum setzt sich durch, in dem oft Dämonenglaube, Wundergläubigkeit und magische Praktiken überwiegen und längst Priester als offiziell exklusive Magier fungieren. Mit Prozessionen und Festivitäten, die nicht selten auch an "heidnische" anknüpfen, wird zudem das Unterhaltungsbedürfnis der städtischen Bevölkerung etwas befriedigt. Bei allen Versuchen der geistlichen Elite, für ihren Apparat möglichst altrömisch-christliche Elemente aufrecht zu erhalten, dringen so u.a. germanische, keltische und vorchristlich-römische Elemente in das sich ausbreitende Christentum ein.

 

Mit der Christianisierung der Landbevölkerung entstehen dort neben Tauf- und Bethäusern seit dem sechsten Jahrhundert zunehmend von Historikern so genannte Eigenkirchen der Grundherren, die gegen kirchlichen Widerstand oft Geistliche selbst einsetzen und auch für Dienste bei sich nutzen.

 

***Kirche***

 

Wenn wir der Apostelgeschichte, Paulus und den Evangelien folgen, dann wollte Jesus weder eine Religion noch eine Kirche begründen. Diese begründet sich vielmehr daraus, dass er nicht wie versprochen wieder zurück kommt, um die Gläubigen in ein Paradies einzusammeln, und ersetzt mit ihren angeblich von Jesus/Gott verliehenen Heilsmitteln den abwesenden Erlöser.

 

Christen werden Menschen in der Antike zum Teil damals sicherlich, weil Formen von Unzufriedenheit mit sich und ihrem Leben sie hinein in Gemeinden bringt, manche wohl auch, weil die Kirche ihnen befriedigendere Erklärungsmuster für ihr Leben und das Verständnis von Welt bietet; dazu kommen einige Frauen, weil sie so männlicher Sexualität oder einer patriarchalen Ehe in geheiligte Jungfräulichkeit entkommen wollen.

 

Das ändert sich massiv, als Christentum zur Staatsreligion im römischen Reich wird, und die Verfolgung und Zerstörung der antiken Kulte einsetzt. Nun wird es opportun und schließlich, spätestens unter den Nachfolgereichen, überlebens-notwendig, zumindest als Mitläufer aufzutreten. Ausgenommen sind die Juden, aus deren Reihen die neue Religion einst hervorgegangen war.

Ein lateinischer fanaticus ist ein sich vom Göttlichen inspiriert fühlender Mensch, und solche religiösen Eiferer, in neuerem Deutsch Fanatiker, entwickeln (nicht nur) damals manchmal eine Mission, nämlich die, andere zu ihren angeblichen Wahrheiten zu (ver)führen. Ein Missionar ist wörtlich ein Gesandter, entweder von der Kirche ausgesandt oder aber sich selbst berufen fühlend. Ihm sind Andersgläubige unerträglich. Das Missionieren wird aber für wenigstens anderthalb Jahrtausende wohl nirgendwo so intensiv betrieben werden wie im Christentum.

Da christliche Machthaber in den neuen Reichen, insbesondere im Frankenreich, von ihren Untertanen Zugehörigkeit zur Kirche, dem Partner ihres Machtapparats verlangen, unterstützen sie Mission, welche erst die eigenen Untertanen und dann anzivilisierte Nachbarvölker in Vorstellungen und Strukturen unterrichtet, die ihrer Machtausübung nützen. In kriegerischen Eroberungen gehen von nun an Unterwerfung und Missionierung Hand in Hand. Wer sich gegen Christianisierung wehrt, wird mit Gewalt zum Glauben gebracht oder stirbt.

 

Die Funktion von (christlicher) Religion als Machtinstrument, welche als erster Kaiser Konstantin als Möglichkeit erkannt hatte, besteht auch in der Effizienz ihres streng hierarchischen Apparates. Die grundsätzliche Verbundenheit über Grenzen hinweg bleibt zwar bestehen, aber die oströmisch-kaiserliche Kirche beginnt langsam ein Eigenleben und de facto zerfällt sie nun im Westen in Kirchen der jeweiligen Reiche. Nicht nur im Reich der Franken teilt sie sich weiter in die Bistümer als Erben der alten civitates, wobei die Bischöfe sich gelegentlich - auch auf Wunsch der Herrscher - in Reichssynoden treffen, um gemeinsame Beschlüsse nach königlichen Vorlagen zu fassen.

 

Die Kirche ist auch insofern wichtig, als die Begründung der Macht durch erfolgreiche Gewalt schnell ergänzt wird durch religiöse ("christliche") Legitimation: Die Könige stehen im Bündnis mit dem Christengott, der schon länger auch der des Schlachtenglücks ist.

 

Die Bischöfe stellen ein erhebliches Element von Kontinuität von der Spätantike zur merowingischen Nachantike dar. In ihrem Amt führen sie die Einheit der civitates als Diözese fort, während diese ansonsten auf die Reststadt reduziert sind und durch Gaue bzw. pagi ersetzt werden. Im römischen Kaiserreich konstituiert, beruhen Diözesen weiter auf römischen Recht. Darüber hinaus erweitern sie schon aus der späten Kaiserzeit bestehende Funktionen in ihrem Kernort und teilen sich nun dort die Stadtherrschaft mit den Grafen, wobei sie zunehmend Grundbesitz anhäufen. Entsprechend werden sie oft von den Königen bestimmt.

 

Bischöfe weihen Priester, legen Inhalte der Religion aus und verändern sie dabei,  und sie vereinen in ihrem Bereich Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung.

Diese Bischofskirche verbindet "geistliche" Macht mit der weltlichen eines großen Grundherren mit seiner abhängigen Bevölkerung und mit Ansätzen von Herrschaft über die mehr oder weniger verfallenden Städte zunächst in Konkurrenz mit einem Grafen"amt". Im Frankenreich fungieren Bischöfe oft "als (nicht mehr nur kirchliche Vertreter) ihrer Städte am Königshof und vermittelten zwischen König und >civitas<. Das Bischofsamt wurde dadurch in die Reichsverwaltung eingegliedert." (GoetzEuropa, S.221)

Dabei hält die gallische Bischofskirche kaum Kontakt zum Papsttum, welches spätestens im 5. Jahrhundert eine Art Vorrangstellung über (nicht nur) die Westkirche einfordert. Deshalb kann so etwas wie eine gallische "Landeskirche" (Angenendt) entstehen.

 

Noch in der späteren Merowingerzeit bildet sich im Verbund von geistlicher und weltlicher Macht die Pflicht des Gläubigen zur Zahlung einer decima, eines Kirchenzehnten heraus, einer damals allgemeinen Einkommenssteuer, die immer mehr auf alle weltlichen Einkünfte ausgedehnt wird. Da Bischöfe davon aus jeder Pfarrei ein Drittel ungefähr einbehalten, haben sie ein ganz besonderes Einkommen neben dem aus den eigenen Grundherrschaften in ihrer Diözese und darüber hinaus, und neben den Einnahmen aus bis ins hohe Mittelalter steigenden Rechten und vor allem aus Schenkungen von Laien.

 

***Glauben***

 

Vor allen Zivilisationen ist Glauben der gefühlten Unerträglichkeit des Nichtwissens wie der dessen geschuldet, was man wissen kann und nicht wissen möchte. Menschen stopfen die Lücken ihres Wissens und erleichtern das schwer erträgliche Gewusste mittels Spekulierens und Fabulierens, und da das Geglaubte per se keine Substanz in der Wirklichkeit hat, muss es umso intensiver immer wieder eingeprägt und aufrechterhalten werden. In Zivilisationen wiederum wird tradierter Glaubensinhalt im Sinne der Machthaber umgeformt und von ihnen als Teil ihrer Machtausübung aufoktoyiert.

 

Die nachantiken und mittelalterlichen Zivilisationen beruhen wie alle auf Kombinationen von Gewalt und Gläubigkeit, wobei letztere dazu dient, erstere in die Latenz zu bringen, also idealiter in eine schiere und möglichst im Hintergrund lauernde Drohgebärde zu verwandeln. Neben vielem anderem, was der eine oder andere mal hier und mal da glaubt, ist er mit Ausnahme der Juden und ihrem Sonderstatus dazu verpflichtet, ja gezwungen, zumindest so zu tun, als ob er an ein wie auch immer geartetes Christentum glaube. Und ähnlich wie heute alle auf die jeweilige Verfassung verpflichtet werden und sie dabei kaum kennen und verstehen, und das auch gar nicht erwartet wird, so ist den meisten frühmittelalterlichen Christen durch alle Schichten ihre heilige Schrift nicht durch Lektüre vertraut, und der Kern der evangelisch-jesuanischen Botschaft wird ihnen auch weitgehend vorenthalten. Zudem sind ihnen die theologischen Spekulationen seit der Spätantike unverständlich, wie übrigens auch vermutlich fast der gesamten niederen Geistlichkeit. Kurz gesagt: Was zu glauben ist, wird von oben verordnet und so formuliert, dass es den jeweils herrschenden Machtstrukturen dienlich ist und den Menschen einigermaßen eingängig erscheint, ganz so, wie das heute politische Ersatzreligionen tun.

 

So eingerichtet, hat Glauben immerhin den angenehmen Vorteil, einmal mühsames Selbstdenken zu ersparen und sich mehr oder weniger gemütlich im von Mächtigeren Vorgegebenen einrichten zu können, andererseits aber auch den, sich Diffamierung, Verfolgung und auf dem Weg ins "hohe Mittelalter" dann auch Folter und Tod zu ersparen. In diesem Sinne ist das Mittelalter christlich, auch wenn vieles von dem, was da gelehrt und zelebriert wird, für den Ungläubigen absurd wirkt und klingt. Wir wissen, dass es zumindest nach der ersten Jahrtausendwende solche Ungläubige gibt, und das vermutlich viel häufiger als dokumentiert ist, denn es wird immer naheliegender, seinen Unglauben für sich zu behalten und höchstens bei Vertrauten zu äußern, - gerade so, wie politische Ungläubigkeit seit dem 18. Jahrhundert besser verheimlicht wird, will man nicht diffamiert oder schlimmer verfolgt werden.

 

Frühere Kulturen und selbst noch alte Zivilisationen kannten das, was wir heute Kulte nennen, etwas anderes als Religion. Diese Kulte und selbst frühe Götterwelten sind von ihren Ursprüngen her an Naturgewalten gebunden und haben so eine gewisse, nachvollziehbare Plausibilität. Diese verschwindet ganz grundlegend schon im römischen Christentum: Jesus bricht sein Versprechen und kehrt nicht wieder, wofür die Christen mit Formen von Wundern und Magie entschädigt werden, die dem common sense von Menschen, so vorhanden, flagrant widersprechen, oder anders ausgedrückt, aller seiner Erfahrung. Im 10. Jahrhundert beginnt das völlig Unwahrscheinliche immer größeren Raum einzunehmen, um dann ab dem 11. Jahrhundert zunehmend in Dogmen gefasst zu werden, wofür die Transsubstantiation als Musterbeispiel herhalten kann, also die magische Verwandlung schieren Weines in das Blut des Erlösers und von Brot in sein Fleisch, die der Gläubige sich dann beide einzuverleiben hat.

 

Historiker schreiben bis heute von einer "Christianisierung" im nunmehr "christlichen Abendland" eines Mittelalters, ohne etwas anders dabei belegen zu können als eine Zwangsmitgliedschaft in einer kirchlichen Organisation und braves oder auch nur notgedrungenes Nachplappern geforderter Minimalbekenntnisse.

Was die Laien und insbesondere die produktiv tätigen Menschen tatsächlich glauben, lässt sich nur vermuten, obwohl es für die Entstehungszeit des Kapitalismus mindestens so wichtig wird wie das, was sie glauben sollen. Zudem ist bis zur Jahrtausendwende kein sonderliches Interesse der Mächtigen daran erkennbar, was ihre Untergebenen glauben, solange sie die Macht der Kirche durch Beteiligung an ihren Ritualen, Zeremonien und durch Abgaben anerkennen und keine Konkurrenz unterstützen.

 

Die Kirche unterhalb ihrer Adelsschicht dürfte nach den wenigen erhaltenen Hinweisen theologisch ungebildet, ja weithin illiterat gewesen sein und ähnlich wie die Laien, denen sie vorgesetzt ist, Elemente vorchristlicher Kulte und Bräuche mit christlichen vermischt haben. Fasziniert sind die Leute wohl eher von den magischen Aspekten des frühmittelalterlichen Christentums, die immer weiter ausgebaut werden, als vom evangelischen Jesus, von dem sie vermutlich nicht viel mehr erfahren, als dass sein Ende ein triumphaler Tod war, der ihn längst bis an ferne Ende der Welt den Menschen entrückt hat.

Gott, Kirche, Könige, Fürsten, und adelige Grundherren bilden eine Welt, unter die es sich zu ducken gilt, und die religiös begründet wird: Die Macht kommt von Gott wie die Ohnmacht, und es gilt zu gehorchen. Inwieweit sich Leute dabei über einzelne "christliche" Vorstellungen wundern, kann vor den dokumentierten Häresien des 11. Jahrhunderts nur vermutet werden.

 

Christen sind dazu angehalten, andauernd das schier Unglaubliche zu glauben, zum Beispiel auch, dass eine Jungfrau einen (Gottes)Sohn gebären kann, das dreierlei Verschiedenes in einer "Person" ein einheitliches Eines sein kann, dass manchmal Blinde wieder sehen können, wenn sie sich in die Nähe eines Gefäßes mit besonderen Knochen begeben, dass das Eintauchen in vom Priester magisch verzaubertes Wasser einen Menschen irgendwelchen Teufeln entreißen kann, dass das Spenden von Gold und Silber an eine Kirche oder ein Kloster einen beschleunigten Weg zu einem Gott ermöglichen kann, der seinen Sohn geschickt hatte, um Armut als irdisches Ideal vorzuleben. Ja, man kann die Anwesenheit eines Teufels daran erkennen, dass man ihn wie einen Hund bellen oder wie ein Schwein grunzen hört. Vertreiben kann man ihn dann, indem man das Areal mit Weihwasser besprengt. Und vieles mehr...

 

In der Spätantike soll es einen Missionsbischof Dionysius gegeben haben, von dem als erster Gregor von Tours berichtet. Auf dem Mons Mercurii bei Lutetia (Paris) erleidet er mit zwei Gefährten das Martyrium, so dass dieser Hügel dann zum Mons Martyrum wird (Montmartre). Schon im frühen Mittelalter beginnt er den fränkischen Hauptheiligen Martin (von Tours) abzulösen. Das, was von seinem Martyrium zu glauben ist, fasst 1264 die 'Legenda Aurea' so zusammen:

 

Darauf wird er in einen Backofen geworfen, aber das Feuer verlischt und er bleibt unverletzt. Er wird an ein Kreuz geheftet und längere Zeit dort gequält. Von dort abgenommen, wird er mit seinen Gefährten und vielen anderen Gläubigen in einen Kerker gesperrt. Als er dort die Messe feierte und dem Volk die Kommunion reichte, erschien ihm Jesus der Herr in strahlendem Licht, nahm das Brot und sagte zu ihm: Empfange dies, mein Teurer, denn bei mir ist dein übergroßer Lohn. Danach dem Richter vorgeführt, werden sie wieder mit neuen Strafen gepeinigt, und beim Götzenbild des Merkur werden die Köpfe der Drei mit Axthieben abgeschlagen zum Bekenntnis der Dreifaltigkeit. Und sofort richtete sich der Körper des heiligen Dionysius auf und trug seinen Kopf in den Armen, geführt von einem Engel und von himmlischem Licht geleitet, zwei Meilen weit von dem Ort, der Märtyrerberg heißt, bis zu der Stelle, wo er nun nach eigener Wahl und Gottes Vorsehung ruht.

Wenn ein französischer Künstler um 1460 den heiligen Dionysius so darstellt, wird deutlich, dass man damals immer noch erwartet, dass eine solche Geschichte geglaubt wird.

Es geht nicht um Menschen, die anders als wir heute dumm genug sind, sich derart betrügen zu lassen. Sie sind genauso intelligent und klug bzw. dumm wie Menschen heute, wie zum Beispiel solche, die an Hitler, den Bolschewismus oder die Demokratie "glauben"; und in der Regel wird man davon ausgehen können, dass selbst lesekundige Priester nicht meinten, dass sie ihre Herde betrogen, wenn sie solchen Unfug erzählten.

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Das ist wichtig, denn der Glaube an das Unglaubliche formt die Welt mit, die sich im 10./11. Jahrhundert dahin aufmacht, Kapitalismus entstehen zu lassen.

Um das noch einmal anders deutlich zu machen: Die heiligen Schriften der Juden, allesamt sehr sagenhaft, sind mit ihrem Stammes-Chauvinismus wesentlich plausibler, lassen alles wunderbare als Verwunderliches bis auf wenige Ausnahmen aus und verlangen dem Juden eher Abgaben an den Tempel und relativ wenig aufwendige Regeln ab als Wunderglauben. Der Islam enthält im Kern nur eine Absonderlichkeit, dass nämlich ein dem Judentum entnommener Erzengel Mohammed den Koran eingeflüstert haben soll. Das sehr kleine Regelwerk, welches dem Muslim auferlegt ist, verlangt viel geringeren  Wunderglauben, auch wenn der dann nach dem Tod Mohammeds langsam als Ethno-Folklore doch noch Einzug hält.

Wenn philosophisch (aristotelisch) geschulte Leute im 17. Jahrhundert credo quia absurdum schreiben werden, also: ich glaube gerade deshalb, weil es unvernünftig ist, ist das ein Gedankengang, der den frühmittelalterlichen Christen weithin überhaupt nicht zugänglich ist. Vielmehr lernen sie, dass das, was sie zu glauben haben, eben höchste Gewissheit sei. Und wenn Gelehrte und Belesene im 11. Jahrhundert beginnen werden, zu versuchen, das Geglaubte auch noch mit der Vernunft nachzuvollziehen, so wird das der großen Mehrheit der mittelalterlichen Menschen unzugänglich bleiben.

 

Was Glauben wert ist, wird nirgendwo so deutlich wie daran, das "mittelalterliche" Bischöfe, Äbte und Päpste immer wieder Experten mit massiven Urkundenfälschungen betreuen, deren Zweck die Bereicherung und die Machterweiterung ist.

Der Name eines eher legendären Martial taucht zum ersten Mal bei Gregor von Tours auf. Im 9. Jahrhundert entdeckte man, dass er ein Heiliger sei. Bald wird er vom 3. ins 1. Jahrhundert versetzt, damit man aus ihm einen Missionar im Auftrag von Petrus machen kann. Damit wird Limoges zum Wallfahrtsort. Aus dem Missionar wird dann ein Apostel, was Herzog Wilhelm von Aquitanien, der an einem zentralen Heiligtum interessiert ist, 1029 dann offiziell durchsetzt. Die Propaganda für das alles betreibt Ademar von Chavannes, Mönch am Martialskloster zu Limoges. (s. Fürstenau, S.26) 

 

Inwieweit sie diese Lügengebilde von anderer religiöser Propaganda unterscheiden, das heißt, inwieweit sie an das "glauben", was sie propagieren, ist schon bei ihnen nicht zu unterscheiden, da sich natürlich keiner von ihnen dazu äußert. Dass religiöse Behauptungen grundsätzlich auf vielleicht geglaubten Lügen basieren, wird aber für Untertanen irrelevant, für die es bequem ist, an das Vorgegebene zu glauben, und oft lebensgefährlich, sich anders zu äußern. Das aber hat die Kirche damals mit den totalitären Regimen der Moderne gemeinsam, und deren Polit-Propaganda ist schließlich genauso verlogen und bequem zu glauben.

 

Was mittelalterliche Menschen tatsächlich glauben, hängt einmal von ihrem Zugang zu Kirche ab, der erst im Verlauf des Mittelalters nach und nach die Menschen auf dem Lande erreicht. Verlangt wird von ihnen im Kern nur der Glaube an die magischen Kräfte der Kirche und das zunächst wenige, was gerade vor Ort ein Geistlicher imstande ist, ihnen als Glauben vorzusetzen. Danach sind alle Menschen außer den Heiligen Sünder, und das Maß ihrer Unterwerfung unter die Kirche bestimmt auch das Maß ihrer Höllenstrafen nach dem Tode.

Was nicht erwartet wird, ist Einsicht in die merkwürdige Theologie, die sich entwickelt, so wie dann auch Philosophen nicht erwarten, dass die meisten Menschen Zugang zu ihren komplizierten Sprachgebilden bekommen. Letztlich bleibt das meiste am Kirchenchristentum für die meisten Menschen geheimnisvoll und wohl auch uninteressant.

 

Wichtig für die Menschen damals ist sicherlich das magische Moment, welches sie vor ihrer Bekehrung im jeweiligen "Heidentum" schon kannten und welches in den evangelischen Wundertexten nicht wenig Raum einnimmt. Für Kelten und Germanen gehörten dazu Beten und Opfern an Hainen, an Bäumen, Quellen und Steinen, und die Kirche behauptet ja oft nicht, dass das unwirksam sei, sondern nur, dass es nicht korrekt sei. Aber von der Sternengläubigkeit bis zur Spökenkiekerei bleibt jede Menge "heidnische" Gläubigkeit ja bis heute bei nicht  wenigen erhalten. 

 

Die freieren Geister der Antike sind uns nur als schreibende Intellektuelle überliefert, und solche sind in den neuen Reichen bis ins 11. Jahrhundert nur noch im schmalen Rahmen der Kirche möglich, die der geistigen Freiheit immer engere Grenzen setzt. Wie intensiv und in wieweit die produzierende und unterworfene Unterschicht irgendetwas Christliches glaubte, bleibt uns heute unbekannt, überhaupt ist Glaube als Haltung jenseits aller Erfahrung das eben, was Religion im Unterschied zu vorreligiösen Kulten ausmacht.

 

***Taufe***

 

Wer sich mit dem Teufel in dieser Zeit und mit seiner Macht und Allgegenwart beschäftigt, kommt nicht um die gleichzeitige Ausdeutung der Taufe herum, die in dieser Form in der römischen Kirche Bestand haben wird: Es handelt sich um den rituellen Vorgang, in dem durch den Priester mithilfe des Taufpaten das Kind dem Teufel entrissen und in die Hand der allein rettenden Kirche gegeben wird. Solange es noch wesentlich die Erwachsenentaufe gibt, steht der Täufling in einem Wasserbecken und bekennt mehrmals seinen Glauben, wobei er dann untergetaucht wird.

Eines der frühesten althochdeutschen Zeugnisse, ein Taufgelöbnis, dokumentiert das exorzistische Element. Erst wird dreimal dem Teufel widersagt und dann wird in einzelnen Erklärungen das Glaubensbekenntnis aufgesagt. Die ersten Sätze lauten in heutigem Deutsch:

Widersagst du dem Teufel? (Forsahhistu unholdun?) - Ich widersage. / Widersagst du den Werken und allen Wünschen des Teufels? - Ich widersage. / Widersagst du allen Blutopfern, die von den Heiden dargebracht werden, und allen Abgöttern und Götzenbildern, die sie als Gottheiten verehren? - Ich widersage. (E. von Steinmeyer (Hrsg), Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, Berlin 1971 (1916), S.23ff)

 

Wehe dem Kind, das vor der Taufe oder Nottaufe stirbt. Es kann nicht auf dem Kirchhof beerdigt werden, da dort nur die mit einer gewissen Aussicht auf die Himmelfahrt Platz bekommen, also nicht die Ungetauften und auch keine schweren Sünder.

 

Zunächst ist in der antiken Kirche für die Taufe eine mehrjährige Katechumenzeit notwendig, aber diese schrumpft dann immer weiter zusammen. Den extremen Verzicht darauf bilden nachantike Zwangstaufen, die ohne jede religiöse Vorbereitung vollzogen werden.

 

Zur unter den Merowingern oft geringen religiösen Bildung der Priester passt es, dass bald die Kindertaufe zum Regelfall wird. Ersatzweise für die Kleinen müssen nun Paten oft nur minimale Glaubensinhalte vorweisen und stellvertretend für die (wehrlosen) Kinder bekennen.

 
Die klassische Teufelsaustreibung ist also die Taufe, aber Exorzismus ist das Mittel, mit dem jedem auch in späterem Alter der Teufel ausgetrieben werden kann, so er von einem Besitz ergriffen hat. Da das öfter passiert, ist die Zahl der Exorzisten, damals meist Teil der niederen Geistlichkeit, entsprechend groß.

 

***Buße***

 

Da der Teufel in dieser Welt nach dem Willen Gottes (?) und der Menschen herrscht, ist jeder ein Sünder. Die Germanen kannten keine Unterscheidung religiös oder weltlich definierter Vergehen, ihre Vorstellungswelt war tradierte Alltagskultur gewesen, eine Einheit. Die vorchristlichen Römer kannten keine Sünde, sondern nur Verstöße gegen die hergebrachten Kulte und auf der anderen Seite Rechtsverletzungen. Das Christentum ist von außen aufgesetzt. Die wichtigste Neuerung, die mühsam im Laufe von Jahrhunderten durchgesetzt werden muss, ist ein Bewusstsein von der eigenen (und allgemein-menschlichen) Sündhaftigkeit, der nicht einmal Päpste und allerfrömmste Kaiser entkommen, von denen immerhin einige auf mittelalterlichen Gemälden in der Hölle landen. Das heißt, man kann sich rein weltlicher Vergehen etwas leichter enthalten, der Sünde aber eben nicht.

 

Die fränkischen Herrscher versuchen im Zuge der Christianisierung ihrer Herrschaft  die Vorstellung einer Einheit weltlicher und geistlicher Vergehen herzustellen, indem sie sich zu Herren über ihre Kirche machen. In der Praxis geht das aber nicht. Das Königsgericht und die gräflichen Gerichte verhandeln die Vergehen, die aus der Sicht der Herrschaft zu verhandeln sind. Die Kirche ist zuständig für all die Sünden, die für den weltlichen Arm keine Verbrechen sind, sondern „nur“ Sünde. Die Überschneidungen sind dabei allerdings erheblich, denn die Kirche übernimmt auch ganz weltliche Vergehen in ihren Sündenkatalog.

 

Die germanischen Volksrechte kannten als Strafe vor allem Geldzahlungen, im Verlauf fränkischer Herrschaft wird dieses Recht durch Grausamkeiten angereichtert: Todesstrafe auf immer mehr Missetaten bis hin zum Majestätsverbrechen bei Karl dem Großen, aber auch Handabhacken, Blenden etc.

Die Geldstrafenkataloge der Germanen finden nun bald eine Analogie in den Bußkatalogen für die Sünden. Vor der Busse steht die Beichte, das Bekennen der Sünde, welches ursprünglich öffentlich und persönlich und keine rein kirchliche Angelegenheit ist. Es kommt dafür in der Merowingerzeit zunächst zur Versammlung ganzer Ortschaften und zu großen Bittprozessionen. Genauso ist es in den Klöstern, in denen die Brüder sich untereinander die Beichte abnehmen. Dann wird zunächst eingeführt, dass Todsünden Priestern (heimlich) gebeichtet werden müssen, aber dann schließlich alle anderen auch.

 

Seit der Spätantike ist es üblich, dass Menschen, denen eine Kirchenbuße auferlegt wird, zu Anfang der Fastenzeit ein Bußgewand anziehen und mit Asche bestreut werden. In der Kirche Galliens werden sie wie Adam und Eva aus dem Paradies aus der Kirche vertrieben. Am Gründonnerstag dann dürfen sie wieder die Kommunion empfangen. Während dieser Brauch um das Ende des 10. Jahrhunderts verloren geht, setzt sich die Aschenbestreuung aller Gläubigen durch, nachdem zunächst einzelne sie aus Solidarität mit den Büßern auf sich genommen hatten.

 

In den germanischen Nachfolgereichen steht es sehr lange eher schlecht um die Reue, da ähnlich wie in den Volksrechten Buße als Kompensation für Übeltat betrachtet wird. Man fastet so und so lange, betet so und so viele Gebete, tritt eine Pilgerschaft an usw. Man leistet also etwas für die Vergebung der Sünde. Mit den irischen Mönchen kommen dann ganze Bußbücher auf, in denen Sünde und Buß-Strafe detailliert gegenüber gestellt werden. Dabei kann gelegentlich Buße auch mit Geld als frommem Werk (zum Beispiel als Almosen) abgeleistet werden. Die Idee der Reue und Besserung gerät dabei in den Hintergrund.

Diese Entwicklung führt dazu, dass ein Grundherr schon einmal seine Sklaven für sich, also an seiner Stelle, fasten lässt und schließlich dazu, dass auch Angehörige oder Verbrüderte im Gebet für jemanden quasi Bußleistungen abliefern und solches nach dem Tod des Betreffenden fortsetzen.

 

Im Grunde genommen wird dabei, besonders auch unter dem Einfluss Columbans, immer deutlicher die Vorstellung vertreten, dass jede Sünde eine entsprechende Buße als Äquivalent hat und darum durch Buße auch vergeben werden kann, - so wie es heute in Europa kurioserweise heißt, dass dem Verbrecher nach "Verbüßen" der Gefängnisstrafe kein Makel bleibt, er hat - was auch immer - abgebüßt. Dass all das nun rein gar nichts mehr mit dem evangelischen Jesus zu tun hat, ist offensichtlich, besonders auch, wenn man bedenkt, in welchem Umfang die Reue hinter der Buße zurücktritt.

 

Die förmliche Verbindung von Beichte und Bußeröffnung bei Todsünden fand vor allem am „Aschermittwoch“ in der Kirche statt: „In einen Sack gekleidet, mit bloßen Füßen und niedergeschlagenen Augen, trat der Sünder vor den Bischof, der ihm Asche aufs Haupt streute, das Büßerhemd überwarf und das Strafmaß eröffnete, bevor er ihn feierlich aus der Kirche weisen ließ." (Riché, Welt der Karolinger, S.285)

 

Unter dem Einfluss Columbans (s.u.) kommen die Bußbücher hinzu, in denen Bußleistungen für unterschiedliche Sünden aufgeführt werden. Darin gibt es das körperliche Kasteien (zum Beispiel mit Rutenschlägen), das zusätzliche Fasten, das Pilgern als Buße, das öftere Aufsagen von Gebeten oder ähnliches. Vermutlich hatte nie zuvor eine Institution mit ihren Beamten eine solch konsequente und intime Kontrolle und Machtausübung über Menschen gehabt.

 

Das erleichtert andererseits die Ablösung der Bußleistung durch Geldzahlungen an den Priester, der dem Sünder dafür die Absolution gewährte und die Messe zur Reinigung der Seele feiert. (Scholz, S.202)

 

Der große Theologe und Patriarch von Aquileia zur Zeit (des "großen") Karls, Paulinus, gibt genau an, wie die Buße eines Aristokraten aussieht, der seine Frau wegen des Verdachts auf Ehebruch getötet hatte:

Du darfst künftig keinen Wein und kein Bier trinken, außer an Ostern und Weihnachten darfst du auch kein Fleisch essen, du musst bei Wasser und Brot fasten. Du hast deine Zeit mit Fasten, Nachtwachen, Gebeten und Almosengeben zu verbringen. Es ist dir verboten, jemals Waffen zu tragen oder einen Kampf anzunehmen. Du darfst dich nicht wieder verheiraten, dir keine Konkubine nehmen und keine Unzucht treiben. Künftig wirst du kein Bad mehr nehmen und an keinem Gastmahl mehr teilnehmen. An der Kirche hast du dich, abgesondert von den übrigen, noch außerhalb der Vorhalle aufzuhalten. Empfiehl dich dem Gebet derer, die hinein- und hinausgehen... (In: Riché, Welt der Karolinger, S.285)

 

Also: Ihm ist jede adelige Lebensführung verboten, stattdessen muss er leben wie ein Mönch, aber ohne den Halt, den ein Kloster dafür gibt. Sich gar nicht mehr waschen zu dürfen, ist ebenfalls eine Form körperlicher Kasteiung, die über die Anforderungen diesbezüglich an Mönche hinausgeht. Und die öffentliche Demütigung und Erniedrigung dieses Hochadeligen Woche für Woche am Eingang der Kirche ist fast schon eine Art Pranger späteren mittelalterlichen Städtewesens.

 

***Geschlechtlichkeit***

 

Das Christentum der ersten Jahrhunderte geht von der Askese zur Bejahung von Ehe und Familie über, und diese werden dann in den neuen Reichen noch etwas durch germanische Vorstellungen ergänzt. Tatsächlich dienen sie der praktischen Bewältigung des Alltags, was wohl viele Menschen derzeit im totalitären Versorgungsstaat BRD mit seiner von Kapital und Staat geförderten sexuellen Verwahrlosung kaum noch nachvollziehen können.

 

Macht setzt nicht nur Recht und formuliert Moral als Herrschaftsinstrument, sie alleine kann beide zugleich straflos mit Füßen treten. Auch nur ansatzweise christliche Sexualmoral gilt schon damals nicht für die, welche Massen untertäniger Menschen für sich einspannen können und sich darum an die von ihnen mitvertretenen Regeln selbst nicht halten müssen. In dynastisch orientierten Herrscherfamilien wie den Merowingern und den Karolingern gibt es neben der wegen dynastischer Interessen ausgesuchten Ehefrau in der Regel Nebenfrauen auf Zeit, eben solange, wie sie sich appetitanregend halten können. Da es sich ihnen gegenüber höchsterns um Verliebtheit, selten aber um Liebe handelt, soll hier der Euphemismus "Geliebte" nicht gebraucht werden. Daneben ist zu vermuten, dass der Gelegenheitsfick gegenüber Mädchen und Frauen in schwacher Machtposition je nach Persönlichkeitsstruktur der Machthaber so üblich sein dürfte, dass er nicht erwähnenswert wird.

 

Im Prozess der Romanisierung und Christianisierung des germanischen Bevölkerungsanteils wird der weibliche Einfluss jedenfalls nach und nach zusammengestrichen. Dazu kommt die langsame Durchsetzung der christlichen Ehe. Merowingische Könige sind allerdings nicht monogam, sie haben oft mehrere Ehefrauen und zudem Konkubinen. Sie "nehmen" sich Frauen, eine ordentliche christliche Eheschließung wird erst noch kommen, und darum werden auch erst unter den Karolingern die illegitimen Söhne von der Nachfolge ausgeschlossen.

 

Die nicht angeheirateten Bettgefährtinnen Karls ("des Großen") gehörten sicher zur Normalausstattung eines mächtigen Großkriegers, und seinen Töchtern verbietet er die Ehe wohl nur, damit sich keine hohen Untertanen dadurch zu großmächtig fühlen können. Ihre sexuellen Bedürfnisse dürfen sie als Töchter des Großpotentaten aber offenbar unehelich und relativ hof-öffentlich nach gusto ausleben und entsprechend uneheliche Kinder bekommen.

 

Ludwig ("der Fromme") ist unter den Mächtigen offenbar eher eine Ausnahme, was Monogamie im Erwachsenenalter betrifft. Aber als er mit sechzehn zum ersten Mal heiratet, hat er bereits von Konkubinen eine Tochter und einen Sohn und der Astronomus bescheinigt ihm eine gewisse sexuelle Heißblütigkeit in jungen Jahren.

 

In seiner Zeit beschuldigen Machthaber, die ihre Ehefrauen los werden wollen, diese des Ehebruchs, der Sodomie und was ihnen sonst so einfällt und gehen wohl davon aus, dass das alles nicht ganz unplausibel klingt.

 

Die widerliche Geschichte von Lothar II. und Theutberga mag zwar im Kern von dem Wunsch nach einem legitimen Erben handeln, beschreibt aber zugleich, wie Mächtige damals mit Frauen umgehen. Nachdem der Herrscher von Theutberga keinen (ehelichen) männlichen Nachkommen hat, will er zwei Jahre später 857 zu seiner früheren Sexualpartnerin Waldrada zurück, von der er immerhin einen Sohn hat. Um Theutberga loszuwerden, behauptet er, sie habe analen Geschlechtsverkehr mit ihrem Bruder gehabt, habe mit Hexenkraft so ein Kind gezeugt bekommen, welches sie dann abgetrieben hat.

858 übersteht Theutberga ein sogenanntes Gottesurteil, wird dann aber 860 gezwungen, zu "gestehen" und ins Kloster zu gehen. 862 wird Waldrada auf einer Synode zur Königin erhoben. 863 lehnt der neue Papst Nikolaus I. das Ganze ab, setzt die beiden Erzbischöfe ab, die mitgespielt hatten, und verlangt von Lothar, dass er seine legitime Frau zurücknehme. Die Herrscher in den beiden Nachbarreichen wollen von dem Skandal profitieren, und am Ende übernehmen in der Tat nach dem Tod Lothars in Italien 869 seine Verwandten Karl ("der Kahle") und Ludwig ("der Deutsche") Lothringen.

 

Wie es unter den Mächtigen so zugeht, berichten die Annalen von St.Bertin für 869:

Karls ("des Kahlen") Frau Irmintrud war fern vom König im Kloster gestorben, und alsbald (exsequente) schickt er den Boso (...) an dessen Mutter und deren Schwester Theutberga, die Witwe König Lothars, ließ sich Richildis, die Schwester dieses Boso, zuführen und nahm sie zur Beischläferin (in concubinam accepit): um deswillen gab er diesem Boso die Abtei des heiligen Mauritius nebst anderen Lehen und begab sich selbst, jene concubina mit sich führend, eilends auf den Weg nach der Pfalz zu Aachen (...) (in: QuellenkarolReichsgeschichteII, S.205) Im folgenden Jahr wird er seine Konkubine dann heiraten.

 

Nur selten hört man von Übergriffen der Mächtigen auf Mädchen und Frauen, die offenbar zu gewöhnlich sind, um einer Erwähnung wert zu sein. 882 zieht König Ludwig von Westfranzien gegen die Normannen, und vermutlich wäre Folgendes nie aufgeschrieben worden, wenn er nicht dabei tödlich verletzt worden wäre:

Aber jung wie der König eben war (quia iuvenes errat !), verfolgte er ein Mädchen, die Tochter eines gewissen Germund; und da diese sich in das väterliche Haus flüchtete, setzte ihr der König zu Pferde im Scherz (!) dahin nach, wobei er sich am Türstürz die Schultern und und am Sattel seines Pferdes die Brust aufrieb und eine heftige Quetschung erlitt. (Annales Verdastini in: QuellenkarolReichsgeschichteII, S.303)

 

Zwischen Mägden und ihren wohlhabenderen Herren dürften sexuelle Übergriffe, darunter wohl auch eher Einvernehmlicheres, häufiger gewesen sein, und selbst rohe Vergewaltigungen sind wohl nicht selten. Im Prümer Urbar tauchen unter den servi non casati zahlreiche Frauen auf, die unverheiratet sind, aber mehrere Kinder haben, - ohne das über die Erzeuger ein Wort verloren wird.

So etwas wird damals in aller Regel nicht geahndet, es gehört wohl bis ins späte Mittelalter zumindest dazu und diese Situation soll sich ja auch bis ins 19. Jahrhundert nur wenig ändern: Handelt es sich nicht um den Arbeitgeber selbst, dann eben um seine Söhne.

 

Vergewaltigungen alleinstehender Frauen werden ohnehin geringfügig oder gar nicht geahndet, und bekanntlich wird das bis zu einem gewissen Grad bis ins 20 Jahrhundert so gelten. Wenn man den Annalen des 9./10. Jahrhunderts folgt, dann sind Heerzüge und Kriege neben anderen Greueltaten immer von Vergewaltigungen der weiblichen Bevölkerung begleitet. Die "heidnischen" Wikinger (pyrates) oder Nordmänner oder Dänen, wie auch immer sie genannt werden, ergänzen das durch Versklavung ihrer Opfer.

Aber christliche Heere scheinen nicht viel besser zu sein. Kriege sind Verwüstungszüge, die Heere müssen sich vor Ort versorgen und ihre Aggressionen loswerden. Machthörige Chronisten berichten davon nur, wenn es ihnen opportun erscheint.

Als Kaiser Ludwig 864 in Rom ist, verprügeln seine Leute Priester Der Kaiser verließ nach wenigen Tagen Rom,, nachdem von seiner Begleitung viele Räubereien verübt, Häuser zerstört, Nonnen und andere Frauen geschändet, Männer getötet und Kirchen geplündert worden waren. (Annales Bertiniani in: QuellenkarolReichsgeschichteII)

 

 

Was all das angeht, was doch so wichtige Dinge im Leben der Menschen sind, so können wir über die mehr als 90% produktiv arbeitender Bevölkerung noch viel weniger Aussagen machen. Hier geht es auch im Verhältnis der Geschlechter um die Not Wendendes; Ehe, Familie und Verwandtschaft sind lebensnotwendig und auf das wenige Wichtige konzentriert.

Einen Hinweis geben vielleicht fränkische Synoden der Mitte des achten Jahrhunderts, in denen Fälle einer gerechtfertigten Scheidung erwähnt werden, nämlich "dass ein Mann mit der künftigen Schwiegertochter verkehrte oder mit einer fremden Frau und zugleich deren Tochter Ehebruch trieb, dass ein Ehepartner beim Eheabschluss seinen unfreien Rechtsstand verheimlichte" (usw., Angenendt(2), S.290). Das sind wohl keine ganz seltenen Fälle, gibt aber keine wirkliche Auskunft über den Alltag.

 

 

Das Christentum spricht grundsätzlich beiden Geschlechtern die Fähigkeit zur Heiligkeit zu. In dieser Ausnahmesituation werden also Mann und Frau „gleichgestellt“. Alltäglich ändert das zunächst wenig daran, dass die ehrbare Frau der römischen Antike insbesondere als Ehefrau auf Heim und Herd beschränkt war. Vermutlich hatten Frauen in der germanischen Welt eine etwas stärkere Stellung, was sich aber nur im Rückschluss annehmen lässt.

 

Was all das angeht, was doch so wichtige Dinge im Leben der Menschen sind, so können wir über die mehr als 90% produktiv arbeitender Bevölkerung noch viel weniger Aussagen machen. Hier geht es auch im Verhältnis der Geschlechter um die Not Wendendes; Ehe, Familie und Verwandtschaft sind lebensnotwendig und auf das wenige Wichtige konzentriert.

Einen Hinweis geben vielleicht fränkische Synoden der Mitte des achten Jahrhunderts, in denen Fälle einer gerechtfertigten Scheidung erwähnt werden, nämlich "dass ein Mann mit der künftigen Schwiegertochter verkehrte oder mit einer fremden Frau und zugleich deren Tochter Ehebruch trieb, dass ein Ehepartner beim Eheabschluss seinen unfreien Rechtsstand verheimlichte" (usw., Angenendt(2), S.290). Das sind wohl keine ganz seltenen Fälle, gibt aber keine wirkliche Auskunft über den Alltag.

 

 

Die Ehe wird unter den Eltern ausgehandelt, und die Eheschließung findet dann in zwei Etappen statt. Zunächst kommt die Verlobung mit einer Gabe des Bräutigams (dos), die der möglichen späteren Witwenversorgung dient. Zudem erhält die Verlobte einen Ring von ihm, und das Ganze wird in ein Fest eingebettet.

Dann kommt die eigentliche Hochzeit, für die die Brauteltern der Tochter eine "Mitgift" geben und der Ehemann ihr nach der Hochzeitsnacht die Morgengabe überreicht.

 

***Eucharistie***

 

Nach der Taufe ist die Eucharistie (seit dem zweiten Jahrhundert griechisch für: Danksagung) das zweite zunehmend mit magischen Vorstellungen besetzte Sakrament, also die zweite "heilige" Kulthandlung. In ihrem Kern steht ursprünglich ein Gedächtnismahl, welches an das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern vor seinem Tod erinnern soll, als Jesus Brot und Wein als Erinnerungszeichen an ihn benennt. Daraus entwickelt sich in den ersten Jahrhunderten ein besonderer Gottesdienst aus Lesung, Predigt, Fürbittengebet, Friedenskuss und Mahl, der dann im 5. Jahrhundert als missa bezeichnet wird.

 

Dabei eignet sich nun der Priester die von der Gemeinde gespendeten ("geopferten") Brote und den Wein an, die sie ihm zum Altar bringen, vergibt diese in der Kommunion an die Gläubigen und behält den Rest für die Armen.

 

Zwischen dem zweiten und fünften Jahrhundert setzt sich die Vorstellung durch, das Brot und Wein für das Blut und den Leib Jesu stehen. Augustinus schreibt in seinem Sermo 272

Die Eucharistie, Brot und Wein heißen deshalb Sakramente, weil man an ihnen etwas anderes sieht, etwas anderes dagegen erkennt. Was man sieht, hat eine leibliche Gestalt, was man erkennt, hat einen geistigen Gehalt. Die Eucharistie (…) ist nicht nur eines unter vielen Zeichen, sondern sie zählt zu den signa sacra, da Brot und Wein erst gewandelt werden zu einem ‚sichtbaren Wort‘.

 

Diese "Transsubstantiation" macht dann auf dem Weg ins Mittelalter jene Wandlung durch, mit der der Priester, wie es heißt, tatsächlich Brot und Wein in Leib und Blut Jesu verwandelt, welche der Christ sich dann einverleibt und so in communio (Gemeinschaft) mit Jesus tritt, ein Prozess, der im 11. Jahrhundert zu heftigem Streit zwischen philosophisch angehauchten Theologen und der kirchlichen Orthodoxie führen wird.

 

***Heiligkeit***

 

Das Wort heilig bzw. sanctus spielt für den in griechischer Sprache propagierten Jesus der Evangelien keine Rolle: Ihm zu folgen heiligt nicht, sondern rettet. Heiligkeit gerät ins Christentum erst, als der Retter nicht wie versprochen wiederkommt, und zwar in der zunehmenden Übernahme von Aspekten antiker Kulte.

 

Da ist zum einen die Selbstheiligung durch ein Jesus in Armut und massive Reduzierung allen Begehrens imitierendes Leben, welches Eremiten zum Beispiel als "heilig" erscheinen lässt, und dazu gehören auch die nach Bedürfnislosigkeit strebenden Jungfrauen. Den Schein, Nimbus der Heiligkeit gewinnen als erstes die Märtyrer, also die in den Tod gehenden Glaubenszeugen der Antike. Das beginnt Mitte des zweiten Jahrhunderts mit Versammlungen an den Gräbern am Todestag der Glaubenszeugen. Seit dem vierten Jahrhundert entstehen dann über Mäyrtrergräbern große Basiliken. Ende dieses Jahrhunderts beginnen mit Ambrosius von Mailand die Translationen, Übertragungen der Heiligen aus den außerstädtischen Gräbern in innerstädtische Kirchen.

 

Mit Martin von Tours und dann auch besonders angesehenen Päpsten muss man nicht mehr den Märtyrertod sterben, um heilig zu erscheinen. Es genügt, bei entsprechend frommem Lebenswandel der Kirche besonders förderlich bzw. besonders populär zu sein. Nun beweist sich Heiligkeit zunehmend an den Wundern, die Heilige veranstalten, und die dann auch von ihren Überresten ausgehen.

 

Eine besondere Rolle spielen Mönche und Nonnen, die weggesperrt von der "Welt". dem saeculum, kollektiv nach Heiligkeit streben, ohne dass jeder von ihnen gleich in den wachsenden Katalog von Heiligen aufgenommen wird. Aber gemeinsam wird all denen, die nach allgemeiner Meinung besondere Heiligkeit betreiben, dass sie sofort in den Himmel, also die ewige Seligkeit gelangen und nicht wie alle anderen bis zum Tag des Jüngsten Gerichtes warten müssen. In der Nähe Gottes und engelsähnlich haben sie entweder direkten Kontakt zu Gott oder aber zu dessen Entourage, den Erzengeln und Aposteln. Damit kann man sie als seine Fürsprecher in allerlei Not anrufen und sich ihrer Wunderkraft mit Hilfe ihrer Reliquien bedienen. Man macht sie zu Paten bzw. Patronen von Kirchen, die so nach ihnen benannt werden, was damit legitimiert wird, dass man Reliquien, Überreste von ihnen in den Altar oder unter ihn in die Krypta einbaut. Die Macht der Kirche ist eine ihrer Verfügung über magische Mittel, über "Wunder", Mirakel.

 

Heilig wird jemand lange nicht durch Verordnung, wie seit dem hohen Mittelalter durch "Kanonisierung", sondern durch das hohe Ansehen, welches durch Propaganda hergestellt wird bzw. sich einfach durch Verehrung einstellt. Seit den Kirchenvätern wird Heiligkeit als Ausnahmefall propagiert, "indem jede Kirche einem oder mehreren Heiligen geweiht wurde und die Reliquien wundertätiger Heiliger >sammelte<." (GoetzEuropa, S.242) Dazu passt, dass dann sehr lange die meisten Heiligen, die nicht mehr Märtyrer sind, aus dem Kreis der kirchlichen Amtsträger stammt, wozu wieder passt, dass nur rund 15% weiblich sind.

 

Propaganda heißt vor allem Legendenbildung und die darauf folgende Aufzeichnung der Wunderbarkeit des bzw. der Heiligen. Heiligkeit wird zu einem wesentlichen Teil nachantiker und frühmittelalterlicher Textproduktion. Das wird im Laufe der Zeit immer mehr ein Problem für die Kirche dort, wo heiligendes Leben offensichtlich nicht mehr der magischen Heilmittel der Kirche bedarf, wie bei auf Messfeier, Beichte und ähnliches verzichtenden Eremiten. Deshalb wird Heiligkeit immer mehr als ein Ausnahmephänomen propagiert, welches sich dem Regelwerk braver Normalchristen ausnahmsweise entziehen darf. Und daneben konzentriert sich Heiligkeit immer mehr auf Kirchenleute und besondere Koryphäen des kirchlich anerkannten monastischen Lebens, und die Kirche versucht, immer stärkeren Einfluss darauf zu bekommen, wer als heilig zu gelten hat.

 

Dieser Ausnahmecharakter von Heiligkeit hat viele Funktionen. Durch Heilige erhält die Kirche magische Wundermittel in die Hand, die die Besonderheit dieser Leute betonen. Die Ausnahme darf die Regel bestätigen, dass Christen große Sünder sind und sein dürfen und dennoch mit kirchlicher Hilfe, aber auch nur durch sie, die ewige Seligkeit erlangen und der Hölle damit (früher oder später) entrinnen.

 

Für den Normal-Christen sind Heilige, die einmal Menschen wie sie waren, mehr unmittelbare Ansprechpartner als der trinitarische und für sie fast unnahbare Gott. Dazu gehören auch die Apostel und Maria, die erst später zur Himmelskönigin gekrönt wird, aber sie sind in ihrer Nähe zu Gott doch den Gläubigen schon weiter entfernt. In der frommen Praxis frühmittelalterlicher Christen rückt dann Heiligenverehrung mehr noch als die Dreifaltigkeit in die Nähe von Vielgötterei: Mit ihren verschiedenen Zuständigkeiten erinnern Heilige "im Himmel" immer mehr an die der antiken Götter, die für Naturphänomene, Handel, Krieg und Frieden oder das Glück einer Stadt zuständig waren und entsprechende Kulte hatten.

 

***Reliquien***

 

Im Unterschied zu Judentum und Islam gewinnt das magische Moment im römischen Christentum immer mehr an Bedeutung, was sich dann noch einmal im Prozess der Germanisierung verstärkt. Sakralisierung der Kirche, Einführung von Sakramenten und magischen Handlungen bestimmen immer mehr den kirchlichen Raum und gehen bei der Laienschar dann Verbindungen mit Elementen früherer Naturkulte ein.

 

Die göttliche Dreifaltigkeit ist schwer erfassbar außer in sehr weltlichen Analogien, wie der von Gott/Christus als kaiserlichem Triumphator und  gestrengem Patriarchen. Der heilige Geist wird wenigstens in seiner Bewegung als Taube flugtauglich. Maria und die Apostel immerhin, allen voran der angebliche Kirchengründer Petrus, sind in Menschengestalt fassbar, wenn auch etwas entrückt. Mit den Heiligen, zunächst jenen Märtyrern, die kaiserlicher Macht getrotzt hatten und dafür starben, bekommt das Heilige, inzwischen zwar weitgehend in den Himmel entschwebt, schließlich fast ganz und gar menschliche Gestalt.

 

386 lässt der Mailänder Bischof Ambrosius die Gebeine der Märtyrer Gervasius und Protasius ausgraben und in seine neue Basilika bringen, also vom Friedhof in die städtische Kirche. Mit dieser Translation beginnt der Heiligenkult in Gestalt ihrer fetischisierten Überreste (Reliquien) und dann auch eine Zunahme des Wunderglaubens. Dieser Bischof selbst wird ebenfalls zum Heiligen wie so mancher nach ihm.

 

Heiliges gewinnt magische Kraft, und die Heiligen, über deren mutmaßlichen Überresten, lateinisch reliquiae, Kirchen gebaut werden, die so an der zu Knochen zerfallenen Heiligkeit Anteil bekommen, werden nicht nur Namenspatrone der Kirchen, sondern sie sind Vermittler zu Gott selbst. Man kann sich so direkt an sie wenden, und der Volksglauben spricht ihnen dann jene speziellen Ressorts zu, in denen sie in Anspruch genommen werden können.

 

Während der von antiken Philosophen beeindruckte Augustinus noch vom Tod des Leibes und der Auferstehung der Seele sprach, sprechen sich volkstümliche Wunschvorstellung und sich damit verbunden fühlende Lehrmeinung bald für die Auferstehung des Leibes aus. Heilige sind so einmal leibhaftig im Himmel beim leibhaftigen Gott Christus, und die Kraft, die sie dort entfalten, findet sich bald auch in ihren Überresten wieder.

 

Ein dazu gehörender Aspekt ist die spezifische christliche Wundergläubigkeit, die an die Wundertaten Jesu anknüpfen kann. Die Fähigkeit Wunder zu vollbringen, spektakuläre Magie, wird nun auf alles Heilige, insbesondere aber die Überreste der Heiligen selbst übertragen. Im Umkehrschluss ist eine Reliquie dann echt, wenn sie Wunder vollbringt. Natürlich ist es theologisch gesehen Gott, der das bewirkt, aber das gilt nicht für die Anschauung der meisten Menschen.

 

Dabei gibt es bald sogar magische Übertragung der Wunderkraft durch Kontakt des Heiligen mit dem Gegenstand, wodurch Splitter des „heiligen“ Kreuzes, oder Reste vom Gewand des Gottessohnes oder gar seine Windeln aus Säuglingstagen magische Kraft bekommen. Ein Teil der Letzteren gelangt irgendwann nach dem 5. Jahrhundert nach Aachen, wo sie etwa seit der Zeit des "großen" Karl besonders verehrt werden und zu Wallfahrten Anlass geben.

Entsprechend werden Berührungsreliquien auch dadurch produziert, dass man ein Tuch für eine Nacht auf ein Märtyrergrab legt, und dieses so magische Kraft gewinnt.

 

Hat sich eine Kirche oder ein Kloster in den Besitz besonders attraktiver Reliquien gebracht, so werden sie zu einem Wallfahrtsort. Pilger erhoffen sich dort Heilung von Gebrechen und andere Wunscherfüllung. Für Kirche oder Kloster und den sich so entwickelnden Ort wird das zu einer erheblichen Einnahmequelle. Herbergswesen, Gaststätten, Tavernen, Handwerk und Handel beginnen zu florieren. Ein Musterbeispiel wird mit dem beginnenden Mittelalter das Jakobsheiligtum von Santiago de Compostela.

 

Das Heilige, der Heilige oder wenigstens irgend etwas von ihm und das zugehörige Kirchengebäude verschmelzen zu einer Einheit, in der Wunderbares möglich wird. In dieser Einheit ist Nähe zu Gottes Allmacht, die alles kann, was er will und manches, was man sich wünscht. Und hier ist der Kern praktizierten Christentums zu sehen, welches sich damit unendlich weit von den jesuanischen Vorstellungen entfernt hat. Im katholischen Raum wird das bis wenigstens ins zwanzigste Jahrhundert überleben.

 

Kirche hebelt so im Vorgriff auf das Himmelreich die „natürlichen“ Gesetze von Raum und Zeit aus, erfüllt damit eine mächtige menschliche Welt der Vorstellungen und wir können heute kaum noch die Wucht der Schläge nachvollziehen, als sie in den Reformationen etwas aus den Angeln gehoben wird. Dieser langwierige Vorgang wird allerdings nicht nur forciert, sondern auch abgefedert durch den Aufstieg einer nicht weniger wundersamen Warenwelt, deren Faszination immer mehr mit der des Mirakulösen mithalten kann.

 

Aufgabe von wundertätigen Reliquien ist es über das Mirakel hinaus, Orte erst so recht und gewissermaßen durch Übertragung zu heiligen. Sie leisten das vor allem für und zugleich in Kirchen. Deren magische Qualitäten werden möglichst schon vor der Weihung, selbst ein magischer Akt, durch das Anbringen von Reliquien in oder unter dem Altar bzw. mehreren Altären, in der Krypta oder sogar in den Säulen des Kirchenschiffes erreicht. Wichtig ist es dabei vor allem, Reliquien desjenigen Heiligen, dem die Kirche geweiht ist, unterzubringen.

 

 

Dialektik: Die Vernunft in der Unvernunft

 

Das Christentum der gelehrteren Kreise hat spätestens seit den Kirchenvätern ein Stück weit das Erbe der antiken Philosophen angetreten, insbesondere das der (Neo)Platoniker. Zwar schwindet in der Nachantike jedes Schulwesen jenseits von Klöstern, welches dann in der Schwelle zum Mittelalter auf Kathedralschulen übergeht, aber die antike Schul-Vorstellung von den sieben freien Künsten, artes liberales, mit Grammatik, Rhetorik und Dialektik als Grundlagen überlebt in kleinsten Kreisen.

Ursprünglich ist Dialektik als Kunst der Unterredung, insbesondere von Rede und Gegenrede gedacht, und wird zu einer Diskurslehre, in der auch der nicht unmittelbar diskursive Text unter anderem auf (grammatisch richtigen) überzeugenden (logischen) Schlussfolgerungen zu beruhen hat.

Das Kirchen-Christentum übernimmt nun das dialektische Instrumentarium, um dessen Sinn allerdings dem Unsinn christlicher Überzeugungen überzustülpen. Anders gesagt: Auf dem Fundament unabänderlicher Glaubenswahrheiten wird dann doch mit Vernunftgründen aufgebaut. So kann Hrabanus Maurus schreiben: Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, ist auch Christus nicht auferstanden. Christus ist aber auferstanden, also gibt es eine Auferstehung der Toten. (De clericorum institutione III,20)

 

Diese nur im gelehrten Christentum so vorhandene bzw. erlaubte Neigung zum Argumentierungen in der Religion kann gelegentlich außerhalb von dieser auch ohne religiösen Unfug überleben. In dem, was später als Scholastik auftreten wird, als geschultes Denken, wird das die Grundlagen dafür liefern, dass dann abendländisches Philosophieren bis dahin gelangen wird, der Religion den Garaus zu machen und dabei selbst unterzugehen. Allerdings sind Philosophen des 18. Jahrhunderts nur die Begleitmusik für den Übergang von christlicher Religiosität in polit-ideologische.

 

Das Überleben von logisch argumentierendem Denken in der Religion hat aber als Voraussetzung die Trennung zwischen einer weltlichen und einer "geistlichen" Machtsphäre, die letztlich selbst bei Karl ("dem Großen") respektiert wird, auch wenn er sich in manchem bald als eine Art Kirchenherr aufführt. Anders als im theokratischen Byzanz und im Islam, der die Nachkommen Mohammeds als Kalifen anerkennt, kann so im früheren 12. Jahrhundert ein Abaelard Einfluss ausüben, soweit er nicht die Macht der Kirche bedroht, und werden dann ganze theologische Großgebilde von Vernunftgründen durchsetzt, wie bei Thomas von Aquin.

 

In dieser in geistliche und weltliche Sphäre geteilten Welt, wiewohl auch die weltliche sich (kirchen)christlich gibt, in der vernünftiges Argumentieren also einen Platz hat, kann sich aus zweckrationalem Handeln von Händlern und Handwerkern jener bürgerliche Freiraum Stadt entwickeln, der das lateinische Abendland so stark bestimmen wird und der erst mit den großen Industriestädten des 19. Jahrhunderts und dann dem Konsumismus der Globalisierung des 20./21. Jahrhunderts untergehen wird. Kein Wunder, dass in dieser Endzeit des Abendlandes Marx/Engels und selbsternannte Marxisten Missbrauch mit dem Wort Dialektik treiben werden, in dem sie erneut Glaubenssätze zum Fundament ihrer "Lehre" machen. Aber viele derzeitige "Demokraten" in den absterbenden "westlichen Demokratien" gehen inzwischen noch viel rabiater vor, indem sie neben der Vernunft auch jegliche Erfahrung aus ihrer demagogischen Verhetzung der Menschen streichen.

 

Die Trennung in weltliche und geistliche Sphäre, weder vom Judentum noch vom Islam vollzogen, verbunden mit dem nie ganz untergehenden philosophischen Erbe der Antike, wird wesentliche Besonderheit des lateinischen Abendlandes des langen Mittelalters werden. Darin entstehen die Freiräume, in denen die bürgerlichen Räume von Handel, Finanzen und Handwerk sich so entfalten können, dass daraus Kapitalismus entstehen wird.

 

Kloster (ausführlicher in Anhang 8)

 

Schon früh entstand in Ägypten und dem Nahen Osten ein Eremitentum, welches versuchte, in Weltverneinung und Leibfeindlichkeit einer so definierten Nachfolge Jesu nahezukommen. Diese monachi, nach Heiligkeit strebende Alleinlebende, werden auch dann noch Mönche genannt, als sie beginnen, sich bald in Klöstern zusammen- und so von der "Welt" im claustrum und insbesondere dann der Klausur -abzuschließen.

 

Ein fränkisches Kloster gründet der "heilige" Martin in Ligugé 361 und 375 das monasterium maius (Marmoutier) bei Tours. Ein recht belesener Johannes Cassianus besucht erst Klöster in Palästina und Ägypten und gründet dann 415 St. Victor bei Massilia (Marseille). Bei diesen und weiteren Klostergründungen des 5. Jahrhunderts setzen dann Bischöfe und weltliche Herren eine Einordnung in den fränkischen Machtapparat durch.

 

Während die einfachen Priester sich in Belesenheit und Horizont sowie im Lebenswandel oft kaum von den laikalen Gemeindemitgliedern unterscheiden, und die Bischöfe sich in der Verwaltung ihrer Bistümer und Güter in manchem kaum von hohen weltlichen Herren, wird im 6. Jahrhundert "Gallien westlich der Maas und südlich von Somme und Mosel zu einer >Klosterlandschaft<. (...) Gegen Ende des 6. Jahrhunderts gibt es im Frankenreich rund 220, ein Jahrhundert später rund 550 Klöster." (GoetzEuropa, S.233)

 

Das Kloster dient der Heiligung der Insassen durch Reduzierung auf Mittel der schieren Subsistenz, die hier aber eher gesichert ist, der Unterdrückung sexueller Regungen, der Konzentration auf das Gebet, das Singen von Psalmen und der Lektüre heiliger Schriften, - und das mit den Grundhaltungen der Demut, des Gehorsams und der größtmöglichen Schweigsamkeit untereinander. Damit soll der eigene Wille zurückgedrängt, die eigene Individualität reduziert und sollen Formen individuellen Begehrens unterdrückt werden.

 

Solche nach Heiligkeit strebende Männer- und auch Frauengemeinschaften mit den Kennzeichen der Ablehnung von Individualbesitz und ausgelebter Geschlechtlichkeit funktionieren aber überhaupt nur nach einem extrem strengen Regelwerk und unter der fast uneingeschränkten Befehlsgewalt eines Chefs, des Abtes, mehr noch als die über Befehl und Gehorsam hierarchisch organisierte Kirche.

 

In der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts schafft ein Benedikt eine Klosterregel, die auf mehreren vorherigen fußt und bis ins frühe neunte Jahrhundert immer mehr Einfluss gewinnen wird.

Die Idealvorstellung des benediktinischen Klosters nach seinem Regelwerk ist jene Autarkie, die es aus der Welt herausheben soll. In seinen Mauern ist man Gott nah und zumindest den (asexuellen) Engeln ähnlich, was außerhalb kaum möglich sein kann. Die Klosterpforte mit einem bewährten Mönch als Pförtner soll vor allem die Welt draußen halten. Gästen soll die Klausur, der engere Klosterbereich, verschlossen bleiben. Mönche wiederum sollen in der stabilitas loci nicht außerhalb des claustrum wohnen oder sich aufhalten. Aber Benedikt legt im Unterschied zu früheren Formen von askesis (Askese als Lebensform) Wert auf Hygiene und zudem auf landwirtschaftliche und handwerkliche Arbeit der Insassen. Dazu gehört die Arbeitsdisziplin. Otiositas inimica est animae, Müßiggang ist der Feind der Seele, heißt es schon in den Benediktregeln (48)

. ...deshalb sollen die Brüder zu bestimmten Zeiten mit Handarbeit, zu bestimmten Zeiten mit heiliger Lesung beschäftigt sein. Und weiter: Wenn aber örtliche Umstände oder die Armut es erfordern, dass sie sich selbst mit der Erntearbeit abgeben, sollen sie sich nicht betrüben, denn sie sind dann wahrhaftig Mönche, wenn sie von ihrer Hände Arbeit leben...

 

Der wache Tag ist in bald sechs Blöcke à drei Stunden eingeteilt, und zusammen mit zwei weiteren Terminen sind damit auch die Zeiten für die Stundengebete gegeben. Dabei soll in einer Woche der gesamte Psalter aus 150 Psalmen gesungen werden. Mit der Messe wird ein Kirchengebäude und ein (von auswärts kommender) Priester notwendig, und das Kloster so an die Kirchenorganisation angebunden.

 

Das Funktionieren extremer Kasernierung von Männern (oder Frauen) auf engstem Raum verlangt nach Strukturen von bedingungslosem Gehorsam, auch wenn dies die Klöster nicht zu dauerhaft konfliktfreien Räumen macht, wie sich dort nachlesen lässt, wo solche Konflikte, die durchaus auch gewalttätig sein können, nach außen dringen. Aber der innerklösterliche Alltag ist den Zeitgenossen draußen weitgehend verschlossen. Interna dringen selten nach außen.

Dem Abt als geistlichem wie weltlichem Herrn und den Älteren ist bedingungsloser Gehorsam zu leisten. Er kann sich aber entscheiden, im Kapitelsaal, wo jeweils ein Kapitel der Klosterordnung am Anfang vorgelesen wird, seine Untergebenen anzuhören. Einzelne Beauftragte versorgen den Vorratskeller und die Abgaben der abhängigen Bsuern auf klösterlichen Besitzungen, die Bibliothek, die Pforte und die Kranken in ihrer Abteilung.

Armut, also Besitzlosigkeit des Einzelnen wird dadurch ermöglicht, dass ihm alles absolut Lebensnotwendige bis zu einfacher Kleidung und Nahrung vom Abt zugeteilt wird.

Unter dem Abt gibt es bei Benedikt eine Rangordnung nach Ordenseintritt, mit Grußpflicht der Jüngeren und Sitzplatz-Räumen für Ältere.

 

Dort, wo das Prinzip durchgehalten wird, dass ein Mönch ohne besondere Erlaubnis oder besonderen Auftrag nicht aus den Klostermauern heraus darf, ist er lebenslang eingesperrt, was einmal seinen Erfahrungshorizont massiv einschränkt, zum anderen nach Kompensationen geradezu schreit. Was aber alltäglich vor allem nach Kompensation verlangt, ist das Verbot des Auslebens des Geschlechtstriebes.

 

 

Während die Kirche neben Schenkungen vor allem von Grundbesitz und darauf arbeitenden Menschen gelegentlich mit dem Zehnten eine Form von Finanzierung durch eine Art Steuer erreicht, sind die Klöster ganz auf Schenkungen angewiesen, die im Verlauf des Merowingerreiches in dem Maße zunehmen, als Klöster durch Reformen auch für die kriegerische und viel Grund besitzende Oberschicht attraktiver werden.

Da die kriegerische Oberschicht in vielerlei Hinsicht wenig christlich lebt, bedenkt sie Klöster mit Schenkungen, damit diese auch für sie beten. Zudem verbindet sie sich mit ihnen, indem sie sonst weniger gut unterbringbare Familienmitglieder dorthin abschiebt. Dabei wird es üblicher, schon Kinder dorthin zu schicken, die dadurch rein klösterlich erzogen werden.

 

Kurz vor 600 gelangen irische Wandermönche mit und nach Columban ins Frankenreich. Dieser übt enormen Einfluss auf die größeren fränkischen Herren aus. „Er verkörperte eine Form strengen und furchtlosen Christentums, die weder Ausdruck gallorömischer Kultur noch von den Bischöfen geschaffen war. Darüber hinaus wurde sie von einem Heiligen propagiert, der sich nicht von der Welt abwandte, sondern enge Beziehungen zu den mächtigen Familien des gesamten nördlichen Frankenreiches unterhielt.“ (Geary, S.173)

 

Columbans Klöster zeichnen sich u.a. durch enorme Strenge aus. Die meisten der zweihundert Mönche von Luxeuil entstammen den vornehmsten Familien Franziens, und das Kloster zeichnet sich durch ein religiöses Heldentum büßerischer Askese aus, welches das Heldentum fränkischer Krieger im Krieg fast übertrifft. Dabei wird es zur Kadettenanstalt für zukünftige Inhaber reicher Bistümer des 7. Jahrhunderts wie Eligius, der ebenso reich wie heilig wird, oder Wandregesil, der St.Wandrille gründen wird.

 

Zunächst treten Mitglieder von Familien der fränkischen Oberschicht in Klostergründungen Columbans ein, bald beginnt aber eine für über tausend Jahre wichtige Neuerung: Die großen Familien gründen auf ihrem Besitz „eigene“ solche Klöster, in die vor allem Familienmitglieder eintreten, die auch die Spitze der Klosterhierarchie einnehmen. "Die vom fränkischen Adel gegründeten Klöster standen im Einklang mit dessen vornehmem Status. Es waren große Klöster mit reich geschmückten Kirchen, in denen adelige Männer und Frauen ihren gewohnten Lebensstil trotz aller Hingabe an Gott beibehalten konnten." (Geary(1), S.157). Wichtig wird, dass die Klöster wirtschaftlich unabhängig werden sollen.

Diese fränkischen "Adelsklöster", die später die Regel des Columban mit der des Benedikt verbinden und dabei den asketischen Aspekt wieder weiter zurückdrängen, werden zu regionalen Kult-Zentren, die zugleich adelige Familienzentren sind.

 

Die (weltlichen) Reichen und Mächtigen, allesamt Krieger, geben christlichen Institutionen insbesondere seit dem 7. Jahrhundert gerne viel. Einmal können sie so Kirchen und Klöster eng an sich binden oder sogar unter ihre Aufsicht und ihren Schutz stellen. Des weiteren bekommen sie die Möglichkeit, ähnlich wie Klerus und Mönche in größtmöglicher Nähe zu den Überresten von Heiligen bestattet zu werden, in denen göttliche Wunderkraft aufbewahrt ist, was für den Zugang zum Himmelreich von Vorteil sein soll. Zudem kann man größere Geschenke mit der Verpflichtung von Geistlichkeit und Klosterinsassen verbinden, regelmäßig für das Seelenheil insbesondere der verstorbenen Familienmitglieder zu beten und so die Vermeidung von Höllenqualen zu erreichen, die bei dem Lebenswandel der Laien eigentlich naheliegend sind.

Das wiederum zieht Vorteile nach sich: Eine Kirche, ein Kloster können so später zum Zentrum ihrer Familien werden, zum Versammlungsort und Identifikationspunkt. Es gibt keine Familiennahmen und vorläufig auch keine Burgen, nach denen man sich hätte benennen können, und die den Zusammenhalt und die Traditionsbildung gefördert hätten. Das tut nun bald das Totengedächtnis in Kirche und Kloster, die memoria.

 

Neben und nach dem jüngeren Columban ziehen zahlreiche weitere Iren durch Mitteleuropa. Ein Kilian missioniert vor allem in der Gegend um Würzburg, bis er sich wegen Ablehnung der Ehe des fränkischen Herzogs mit seiner Schwägerin dessen Zorn zuzieht und dafür sterben muss.

 

Im Merowingerreich erhalten einige Bischofskirchen und Klöster eine gewisse Immunität, die den Zugang der weltlichen Gewalt verbietet, so dass diese öffentliche Aufgaben wie Steuern und Militärdienst intern abwickeln.

"Die privilegierten Bischöfe und Äbte nahmen also fortan auf ihrem Kirchen- und Klostergut öffentliche Funktionen wahr, so die Gerichts- und Polizeigewalt, vorerst allerdings noch ohne die Blutgerichtsbarkeit, ferner die Steuereinziehung und die Ableistung des Militärdienstes. Diese Privilegierung ist nur richtig auf dem Hintergrund inzwischen eingetretener Veränderungen zu verstehen, dass nämlich die Justizgewalt nicht mehr von Beamten eines staatlichen Justizapparates in öffentlich-rechtlicher Weise wahrgenommen wurde, sondern vom Adel. Dieser aber trachtete danach, alle von ihm ausgeübten Rechte zu allodialisieren, das heißt: zum Erbgut der eigenen Familie zu machen. Faktisch entzog daher die Immunitätsverleihung dem Adel die Möglichkeit, Kirchengut zu beherrschen" (..., Angenendt(2), S.223) Allerdings wird diese Immunität mit dem Niedergang des Königtums verfallen.

 

Das Klosterwesen beginnt zu florieren, und manche Kloster werden reicher und reicher, denn der Bedarf an klösterlicher Gebetsarbeit und an Messen für die sündigen Familienmitglieder draußen steigt mit ihrem wohl zunehmenden Sündenbewusstsein.

Einmal werden Klöster im 7. Jahrhundert so zu Herrschaftselementen der Könige und des Hochadels wie der Pippin-Familie. Andererseits werden sie der Begehrlichkeit von Bischöfen ausgesetzt, der sie bei Gründung zunächst gelegentlich durch Exemtion entzogen sind:

"Die Inhaber von Bischofsstühlen bemühten sich darum, die Konvente ihrer Diözese enger an sich zu binden und sie sich im Rahmen der herrschaftlichen Durchdringung ihres Sprengels unterzuordnen. Im Süden - etwa in Aquitanien - ging die Initiative zu den meisten Neugründungen von Bischöfen aus, die die Klöster erfolgreich in die Bistumsverfassung eingliederten." (Fischer, S.140)

 

 

Im 8. Jahrhundert greift das Klosterwesen nach dem Einfluss der angelsächsischen Mission (siehe Anh.9) auf die ostrheinischen Gebiete über. Überall handelt es sich vor allem dort entsprechend dem Eigenkirchenwesen um Eigenklöster adeliger Gründerfamlien, die manchmal selbst den Abt stellen oder aber bestimmen. Es geht um Machtfragen, um Zentren für die Herausbildung von Adelsdynastien, aber auch um Werke für das eigene Seelenheil der Stifter. Eigenkirchen besitzen aber auch die Bischöfe, die versuchen, immer mehr Klöster unter ihre Kontrolle zu bekommen. Im Jahre entweder 966 oder 1000 geht so z.B. das 645 gegründete, altehrwürdige Trierer Frauenkloster St.Irminen (Oehren nach den römischen Horrea dort) an den dortigen Erzbischof über.

 

Die von adeligen Familien gestifteten und ausgestatteten Klöster sind eine Art Pfalzort, wo der Herr, wann immer er möchte, Unterkunft findet und bewirtet wird. Sie dienen auch seinem Seelenheil. Er verfügt über das Klostergut, das durch zahlreiche Schenkungen anderer bald weit über die ursprüngliche Stiftungsschenkung seitens des Gründers hinauswächst. Das Klostergut von Aadorf (Thurgau) zum Beispiel sollte nach der Stiftung 890 laut einer urkundlichen Begründung nicht nur dem Gedenken der gräflichen Familie, sondern auch dem Nutzen des Grafen Udalrich und seiner Familie ebenso wie dem Lebensunterhalt der Brüder dienen.  (Goetz, S.83) Der Adel schickt Kinder aus seiner Familie als Oblaten ins eigene Kloster, und dort wird ihnen ein Leben bei nur wenig und leichter Arbeit und zunehmend mehr das Erlernen von Lesen und Schreiben geboten.

Solche Schenkungen sind oft auch Prekarien, die dem Schenkenden gegen eine Zinsleistung an das Kloster die Nutzung auf Lebenszeit sichern.

 

So manches Kloster liegt zwar außerhalb der Stadtmauern, aber in Stadtnähe. Ansonsten wird die Anbindung an Verkehrswege und/oder Wasser gesucht, was wiederum eine relative Einsamkeit dann verhindert, wenn dort auch Siedlungskerne für später städtische Ortschaften entstehen.

 

Große Einrichtungen wie Fulda haben im 9. Jahrhundert über 300 Mönche, St.Gallen etwas über 100. Rund 100 Mönche werden es am Anfang auch in Cluny sein. Frauenklöster gibt es deutlich weniger und sie sind auch erheblich kleiner.

Erwirtschaften müssen die Klöster grundlegend Ernährung und Kleidung der Mönche, bauliche Verbesserungen, Aufnahme von Pilgern und anderen Gästen sowie die nicht unbeträchtliche Armenfürsorge und schließlich auch die Pflicht zu Kriegsdiensten. Dafür stehen die Einnahmen aus der Grundherrschaft sowohl an Naturalien, Diensten und Geld zur Verfügung.

Darum beginnen Klöster relativ früh mit der Effizienzsteigerung ihrer Wirtschaft. Dazu gehören Versuche, den aufgrund regional verschiedener Schenkungen entstehenden Streubesitz zu arrondieren oder wenigstens schriftlich festzuhalten. Naturalien von entfernten Gütern werden dabei häufiger vor Ort auf dem Markt verkauft. Früher noch als Bischöfe oder gar weltliche Grundherren wird dabei eine Art unternehmerisches Verhalten an den Tag gelegt.

 

Zur Effizienzsteigerung gehört auch die seit der Karolingerzeit dokumentierte Bedrückung der armen Unfreien (pauperi homines) durch die Äbte, die opressio, wie es auch in den königlich/kaiserlichen Dokumenten heißt, oft mit dem Ziel, sie in die klösterliche familia mit ihrer Grundherrschaft zu zwingen.

 

Kontrolle über wichtige Klöster begleitet den Aufstieg der Karolinger.

Ein Beispiel ist Prüm, 721 von einer "adeligen" Bertrada als Eigenkloster gegründet. Ihre gleichnamige Enkelin bringt als Gemahlin Pippins "des Jüngeren" die Einrichtung in karolingische Hände. 763 vergibt dieser Immunität und Zollfreiheit für den gesamten klösterlichen Machtbereich. 861 erhält das Kloster das Privileg, im nahen Rommersheim "einen von allen Abgaben an den Fiskus freien Markt und eine Münze zu errichten." (Nikolay-Panter in:Flink/Janssen, S.105) Bis hin zum Urbar von 893 umfasst die klösterliche Grundherrschaft Besitz, der "von Arnheim im Norden bis zu den Salzpfannen im Seillegau reichte, die Güter in Westfranzien, in den luxemburgischen Ardennen, in der Nordeifel, im Bonn- und Ahrgau und an der Mosel umfasste, ebenso wie solche an Nahe, Lahn und Glan. (...) Verwaltet wurde dieser umfangreiche Besitz von den Zentren der Klosterherrschaft, nämlich Prüm selbst, Altrip, St.Goar und Münstereifel." (s.o., S.101), wobei die beiden letzteren auch Geldzuwachs durch Pilger erhalten. Transport und Handel übernehmen Hörige des Klosters, wie auch den Einkauf klösterlicher Luxusgüter.

 

Unter den Karolingern werden zunehmend Klöster unter Reichsschutz gestellt und mit Immunität versehen. Dafür müssen sie den Königen dienen. Wie dies aussieht, zeigt sich am Reichskloster des heiligen Dionysius (St.Denis bei Paris) zum Beispiel 867:

Der Abt, ein Enkel des "großen" Karl, stirbt und König Karl behielt die Abtswürde in diesem Kloster für sich, indem er bestimmte, dass nach seinen Richtlinien die Angelegenheiten des Klosters und die Güterverwaltung durch Probst, Dekan und Schatzmeister geführt, die Besorgung der Militärangelegenheiten (militiae curam) von dem Hausmeier übernommen würde. (in: QuellenkarolReichsgeschichteII, S.165)

 

Das Christentum ist in hohem Maße eine Schriftreligion. Da sind die "heiligen" Schriften des Alten und Neuen Testamentes, der Kirchenväter und die vielen kirchlichen Beschlüsse über Religion und Kirche danach. Da ist das liturgische Schriftgut. Klöster besitzen darum Bibliotheken, die in der früheren Nachantike auch antike Texte heidnischer Autoren aufbewahren, an denen das Interesse dann in der späten Karolingerzeit teilweise nachlässt.

Inzwischen ist man längst von den Schriftrollen aus Papyrus abgekommen und bildet aus in Lagen zusammengefalteten Pergamentblättern Bücher, in denen man von Textstelle zu Textstelle blättern kann. Für ein Buch (Codex) vom Umfang der Bibel sind allerdings die Häute von rund 400 Schafen oder Ziegen nötig, und zwar unter der Voraussetzung, dass darin erfahrene Schlachter den Tieren die Haut so abziehen, dass sie möglichst fehlerfrei bleibt. Vor allem Schafzucht ist alleine schon deshalb für Klöster wichtig.

Danach entfleischen und enthaaren Gerber die Häute, weichen sie mehrmals ein, glätten sie und spannen sie dann auf. Schließlich gelangen sie zu den Mönchen, die sie beschneiden und falten.

Jetzt ist der Schreiber dran, der feine Linien zieht, der nun mit Feder, Anspitzmesser und Tintenhörnchen ans Werk gehen kann. Die Tinten werden wie alles andere meist von Mönchen aus Pflanzenstoffen selbst hergestellt, nur das Rot der Purpurschnecke und das Blau aus zerstoßenem Lapislazuli muss auf großen Märkten für viel Geld von Fernhändlern erworben werden.

 

Meist entscheidet wohl der Bibliothekar zusammen mit dem Abt, welche Bücher kopiert werden, und Kopieren ist dann die mühsame Arbeit der Skriptoren, die kaum eigene Werke schreiben. Voraussetzung für das Kopieren ist natürlich, dass man Vorlagen aus anderen Klöstern geliehen bekommt.