ANMERKUNGEN 3 ZU ENTFALTUNG UND WELTEN

 

Anmerkungen zu: Entfaltung

 

Anmerkung *1 Die islamischen Großreiche zur Zeit des ersten Aufblühens des Kapitalismus im 12. Jahrhundert reichen von Mittelasien bis in den Süden Spaniens. Sie sind mit erheblichen Wanderungsbewegungen verbunden, an denen Vertreter zahlreicher Volksgruppen teilnehmen. Das einigende Band ist der Islam, der allerdings nicht nur in Sunna und Schia geteilt, sondern längst auch in Untergruppen zerspalten ist. Aber während das Christentum im lateinischen Europa längst kriegerisch verfeindet ist, was sich auch in den Kreuzzügen darstellt, die der feindseligen innereuropäischen Spaltung dienen, die die Machtpolitik der Päpste weiter vertieft, dient die Sunna weiter zur Schaffung großer Reiche, in denen und bei deren Schaffung Familien über Kriegsdienst aufsteigen.

 

Mitte des zwölften Jahrhunderts kamen die zwei kurdisch-sunnitischen Brüder Ayyub und Sirkuh aus dem damaligen Armenien in den heutigen Irak und dann nach Syrien,  kriegerische Abenteurer wie die frühen Normannen in Süditalien. Sie steigen in den Diensten Nuraddins auf, der Sultans von Damaskus und Aleppo. Ayyub wird Gouverneur von Damaskus und Sirkuh Feldherr.  

Ayyubs Sohn Saladin (Salah ad-Din ibn Ayyub) nimmt in den sechziger Jahren an Feldzügen gegen die schiitischen (ismaelitischen) Fatimiden in Ägypten teil, und nach der Eroberung des Landes für Nuraddin wird Sirkuh Wesir in Kairo. Nach seinem Tod wird Saladin sein Nachfolger und führt Ägypten gewaltsam in die sunnitische Orthodoxie zurück.

Nach dem Tod Nuraddins 1174 kann Saladin Damaskus erobern und 1183 Aleppo. 1186 kommt Mossul dazu. 1187 besiegt er die Krieger der Kreuzfahrerstaaten bei Hattin, lässt viele Christen töten und erobert kurz darauf Jerusalem. Der dritte Kreuzzug kann daran kaum mehr etwas ändern. 

Ähnlich wie die Christen baut auch Saladin auf dem Mittel des heiligen Krieges, als Dschihad im Koran verankert. Und ähnlich wie im christlichen Europa des 12. und frühen 13. Jahrhunderts setzt er Religion nicht nur gegen äußere Feinde, sondern auch zur Unterdrückung der Untertanen ein. Moscheen, Koranschulen und Sittengesetzgebung dienen dazu wie die Kontrolle des Verhaltens auf den Marktplätzen.

 

Anmerkung *2 Wir haben sie (die befestigten Orte) ihm leihweise zu treuen Händen überlassen, aber nicht übereignet, aber er nimmt sie in seinen Besitz. Das Erbe unserer Väter, Länder der Kirchen, Besitzungen des Reiches, ja sogar alle linksrheinischen Königsrechte, Rechte der Bistümer und Abteien nimmt er für sich in Anspruch. (in Weinfurter, Geschichte, S.151)

 

Anmerkung *3 1124 erfährt der französische Hof von einer wohl mit dem englischen König koordinierten Invasion Kaiser Heinrichs V. ins Herz des Westfranken-Reiches. Ludwig eilt nach St.Denis cum ad aures nostras pervenisset Alemannorum regem ad ingrediendum et oprimendum regnum nostrum, wie es in der königlichen Urkunde dann heißt. (in: Sohn, S.65)

Der Heilige und seine zwei Gefährten werden aus der Krypta geholt, auf den Hauptaltar versetzt, damit er, wie es heißt, das regnum Francorum verteidigen möge. Vom Altar nimmt er dann ein Banner, womit er als Graf des Vexin zum Vasallen des Heiligen (bzw. seines Klosters) wird. Diese seidene, rote oriflamme, mit der er dem Kaiser erfolgreich entgegen zieht, symbolisiert nicht mehr nur sein Königtum als persönliche Fahne, sondern das Reich als Vorläufer einer nationalen Kriegsflagge.

Als Dank für die sakrale Unterstützung kriegerischer Aktivität erhält das Kloster erhebliche Privilegien, die seine Einkünfte deutlich steigern, darunter die Bestätigung einer später Lendit genannten Messe für alle Zeiten.

Von klösterlicher Seite wird in diesen Zeiten ein Dokument gefälscht, in welchem Karl ("der Große") allen Leibeigenen ihre Freilassung garantiert, wenn sie dem Heiligen vier Goldstücke abliefern. Zudem sollen alle seine Nachfolger in der Abteikirche beerdigt werden. Außerdem heißt es nun, Karl der Kahle habe St. Denis einen Nagel aus dem Kreuz der Dornenkrone Jesu gestiftet. Damit erhält das entstehende Reich der Franzosen nicht nur einen neuen "National"heiligen, sondern auch mit Carolus Magnus einen weltlichen Fixpunkt.

 

Die zu Franzosen werdenden Menschen der noblen Oberschicht im nördlichen Westfranzien betrachten sich selbst längst als einzige Erben der Franken und zunehmend als Mittelpunkt lateinischer Zivilisation. In seinem 'Cligès' schreibt Chrétien von Troyes:

Das haben uns unsere Bücher gelehrt, / dass die erste Blüte der Ritterschaft / und Bildung in Griechenland entstand. / Und dann kam die Ritterschaft / und die gesamte Bildung nach Rom, / die nun nach Frankreich gewandert ist. / Gott gebe, dass sie dort bleibt / und der Ort ihr so sehr gefällt, / dass Frankreich nie mehr die Ehre und den Ruhm / verliert, der sich dort niedergelassen hat. (vv).

 

Anmerkung *4 So schreibt Johann von Salisbury Mitte des zwölften Jahrhunderts in einem Brief:

Wer hat die Deutschen zu Richtern über die Nationen bestellt? Wer hat diesen dummen und aufbrausenden Menschen Autorität verliehen, nach ihrer Willkür den Fürsten über die Häupter der Menschenkinder zu setzen? Fürwahr, dies hat ihr Wüten schon allzu häufig versucht, doch wurde es ebenso häufig durch Gott gezüchtigt und verwirrt und schämte sich seines Unrechts. (Brief 124 in Rexroth, S.243)

 

Anmerkung *5 Deutsch ist die Sprache bzw. der Oberbegriff für die Sprachen, die in deutschen Landen gesprochen werden. Aber noch Mitte des 12. Jahrhunderts gibt es für den belesenen Bischof Otto von Freising, Verwandten des Kaisers, kein Deutschland, sondern es ist weiter das Frankenreich, und dessen Raum westlich bis zum Rhein ist weiter Teil Galliens. Ottos Schriftsprache wie die fast aller außer den für Fürsten arbeitenden Dichter ist weiter das Lateinische.

 

Otto von Freising nennt Deutschland gelegentlich Germania und meint damit den Herrschaftsbereich eines deutschen Königs, woraus die Engländer später Germany entwickeln, und die Italiener Germania, aber er ist sich der Unsicherheit in den Benennungen durchaus bewusst. So schreibt er in den Gesta I,8:

Nach jenem Lemannfluss (dem Genfer See …) heißt jene ganze Provinz Alemannia. Daher glauben manche, das danach die ganze teutonicam terram Alemannien benannt ist, und pflegen alle Deutschen Alemannen zu nennen, während nur jene Provinz, dass heißt Suevia, nach dem Lemannusfluss Alemannia heißt und allein deren Einwohner Alemannen genannt werden.

Das wird die Franzosen dann aber nicht daran hindern, von Alemagne zu reden und die Spanier von Alemania, wenn sie von Deutschland reden.

 

Für Otto von Freising herrscht König Heinrich I. noch einerseits in orientali Francia, also im östlichen Frankenland, und ist damit zugleich Herr über ein regnum Germaniae. (Chronik, S.460). Deutsch ist ein vulgärsprachliches Wort und des Lateinischen nicht würdig und so sind die Deutschen denn auch im lateinischen Text Germani (s.o.). 

 

Für den Freisinger Bischof hat Otto I. die Kaiserwürde an die Teutonicos orientales Francos gebracht (Otto, Chronik S.456), wobei es dasselbe Reich (regnum) bleibt, auch wenn die Herrscher nun "eine andere Sprache" (lingua) sprechen als die fränkischen Karolinger. Und nicht ganz klar ist für ihn auch, ob die Eroberung "Italiens" durch den großen Otto das regnum Romanorum nun den Teutonicos neuerdings oder den Francos wieder überträgt (Chronik, S. 464).

 

Als dann 1025 Konrad II. das Königsamt der östlichen Franken antritt, kann er erklären,

dass er von mütterlicher Seite von den bedeutendsten gallischen Fürsten abstammte, die dem alten Stamm/Geschlecht (stirpe) der Trojaner entstammten und vom heiligen Remigius getauft worden waren (Chronik, S.472).

Damit war die französische Vornehmheit, wie sie dort proklamiert wird, hinreichend konterkariert. Und entsprechend dieser Tradition ist dann auch ein Krieg des Reiches unter Konrad III. gegen die Sachsen 1141 noch plausibel, die sich möglicherweise in den Augen mancher noch nicht hinreichend integriert haben.

 

Anmerkung *6 Bei Etzels Turnier im Nibelungenlied sind die tiuschen geste kämpferisch (22,1351), deutsch taucht aber hier nur an dieser Stelle auf. In Wolframs 'Parzival' ist von tiuscher erde ein ort die Rede (P1,4) Vor Kanvoleis lagern unter anderem die stolzen Alemâne (P2,67, das Wort ist allerdings wohl auch dem Reim geschuldet). Auf deutsch sagen heißt tiuschen sagen (P6,314), man hat seine lantsprâche (Tristan12,8701 / T15,10874). Francrîche taucht in diesen literarischen Texten ebenfalls als fester Begriff auf (P9,455), man ist nicht mehr Westfranke, Franzosen sind Franzois (P1,37). Soviel für die Zeit um 1200.

 

Anmerkung *7 Rîch ist auch das Kaiserreich, in Wolframs 'Parzival' sind die vürsten ûz sîme rîche die Reichsfürsten (P14,683). Rîch kann aber auch wie im Nibelungenlied identisch sein mit lant (3,80) als Königreich (14,812), und das ist dann auch schon mal mit einem Stamm identisch, so das es dann heißt: Burgonden, sô was ir lant genant.(1,3). Burgonden lant (3,60) ist Gunthers lant (3,57), beides ist identisch, Herrschaft, Reich, Land und Stamm/Volk.

Wo es eines (einzigen) Herrschers ermangelt, wird das Land im Nibelungenlied von den Leuten her benannt: Die Burgunden ziehen durch der Beyer lant (26,1597) und die von Beyerlande werden von Hagen besiegt (26,1613). In Wolframs 'Parzival' tritt aber eine weitere Variante auf. Wo man kein Stammesvolk namhaft machen kann, tritt ein geographischer Begriff auf, und  so ist daz lant genennet Stîre die Steiermark (P2,9,499).

 

Anmerkung *8 Bei Passau gibt es recken von dem lande (NL21,1294), also nicht aus der Stadt. Natürlich ist das Land auch Gegensatz zum Wasser und es bezeichnet zudem unabhängig von Menschen und Machtverhältnissen eine Gegend: Wein gibt es so in dem lande al umb den Rîn (NL20,1184).

 

Anmerkung *9

Da die Kelten insbesondere in Wales, aber auch in Irland und in geringerem Maße in Schottland sich lange gegen die angelsächsische und anglonormannische Unterjochung und Überfremdung wehrten und dabei ihre Eigenheiten auch schriftlich zu formulieren begannen, wissen wir wenigstens aus ihrer Übergangszeit vom Stadium der Kultur zur Zivilisation über sie etwas mehr.

 

Durch die seit der römischen Invasion in Wellen laufenden Angriffe sehr unterschiedlicher Art scheint sich ein gewisses Gemeinschaftsbewusstsein der britischen Kelten gebildet haben. Dabei haben sie innerhalb der großen keltischen Sprachfamilie unterschiedliche Sprachen in Irland, Wales, Cornwall und einem zukünftigen Schottland ausgebildet. Auch die Verhältnisse in den vier Großregionen sind verschieden so wie auch Art und Grad der Überfremdung von außen.

Cornwall verliert nach der angelsächsischen Einwanderung nach und nach seine keltischen Eigenheiten und wird als erstes in ein englisches Großreich des frühen Mittelalters eingegliedert. Bis 875 ist noch ein kornischer König dokumentiert. Die blutige Anglisierung durch Enteignung und Etablierung einer angelsächsischen Schicht von Grundbesitzern wird unterstützt durch die angelsächsische Überformung der keltischen Kirche durch "englische" Geistlichkeit. Der nächste Schub von Enteignung und Überfremdung geschieht nach der normannischen Eroberung. Die kornische Sprachgrenze zum Englischen verschiebt sich kontinuierlich vom 13. bis zum 18. Jahrhundert von Nordwesten nach Südosten, um dann auszusterben.

 

In Ansätzen von Zivilisierung hat sich bei den Kelten früh ein kleinräumiges Häuptlingstum entwickelt, welches sich dann mit dem Königtum im lateinischen Abendland entsprechenden Titeln schmückt. Auf der irischen Insel gibt es etwa 150 , die jeweils einem Stamm, tuath, angehören, der sich wiederum in mehrere Verwandschaftsverbände aufteilt. Die Macht dieser Häuptlinge ist aber gering. Gelegentliche Versuche, eine Art Oberhoheit zu gewinnen, scheitern schnell.

Das durch Gebirge zerklüftete Wales ist wie Irland zunächst ebenfalls durch nicht territorial definierte von solchen Häuptlingen angeführte Personenverbände bestimmt, also vorzivilisatorische Vorstellungen jenseits des römischen Rechtes. Wie schon bei den noch nicht zivilisierten Germanen ist das Land im Kern im Gemeinbesitz des ideellen Verwandtschaftsverbandes, was überall nördlich der Alpen dadurch gefördert wird, das dieser Verband der Freien seinen Wohlstand in hohem Maße auf Viehbesitz gründet.

 

Im späteren Schottland entwickelt sich Zivilisierung etwas anders. Zunächst in die im Norden siedelnden Pikten und die aus Irland stammenden und gälisch sprechenden Scoten geteilt, die im neunten Jahrhundert locker durch ein von einer scotischen Dynastie gestelltes Königtum vereint werden, welches sich zunächst noch Königtum der Pikten nennt. Tatsächliche dauerhaftere Herrschaft wird zunächst nur in den Lowlands hergestellt, während Highlands und Inseln im Westen fast unzugänglich sind. Letztere sind unter skandinavischen und irischen Häuptlingen aufgeteilt. Im entstehenden Schottland wird ein sich zunehmend an anglonormannischen Vorbildern orientierendes Königtum zum Motor von Zivilisierung.

 

Die Zerstörung des keltischen Wales beginnt nach der normannischen Eroberung mit der Einrichtung von drei Grenzmarken (später: marches) im Osten, den Grafschaften von Hereford, Shrewsbury und Chester, wie die Orte später heißen. In den nächsten Jahrhunderten werden die später Earls genannten und sehr selbständig herrschenden Grafen durch die Errichtung von Burgen und Marktstädten (boroughs), Verleihung von Land an Vasallen, durch Einführung des anglonormannischen Kirchensystems und Zuwanderung aus England dort eine am Ende vollständige Anglisierung unter anglonormannischen Vorzeichen erreichen, allerdings mit eigenem Recht, weder walisischem Gewohnheitsrecht noch anglonormannischem common law.

Während der Thronwirren unter Stephan und Mathilde gewinnen einzelne Häuptlinge die Kontrolle über ein sich in drei Regionen teilendes Rest-Wales mit Gwynned (Nordwesten), Powys und Deheubarth. Diese versuchen wiederum, gegeneinander die Oberhoheit zu gewinnen und gelegentlich unter einem von ihnen die englische Oberhoheit abzuschütteln. 1282 scheitern solche Versuche endgültig.

 

Eine Mittlerstellung im 12. Jahrhundert nimmt Geoffrey von Monmouth ein, der aus einer dortigen anglonormannischen Kolonistenfamilie stammt und erst Magister in Oxford und dann Bischof von St.Asaph wird. Wohl ganz im Sinne seines Förderers, des Earl of Glouvester und Lord von Glamorgan, eines illegitimen Sohnes von König Henry I., phantasiert er sich eine ruhmreiche Geschichte der keltischen Briten insbesondere unter einem König Artus zusammen, der ein mächtiges Großreich beherrscht habe. Die anglonormannischen Herrscher führen, so impliziert er, dessen glorioses Reich weiter. Er fördert so mit einem romantisierenden Keltentum walisisches Selbstbewusstsein, ohne aber den substantiellen Erhalt seines kulturellen Erbes zu wollen.  

 

Die "Anglisierung" der Küsten- und Talregionen geht von englischen Zwingburgen aus, zu deren Besatzungen sich englische und flämische Handwerker und Händler gesellen. Von dort strahlt der Einfluss der Vorstellungen und Einrichtungen einer fortgeschritteneren Zivilisation ins keltische Gebiet aus. Als größere Stadt jenseits der Marken kann aber bis tief ins hohe Mittelalter nur Cardiff mit gut 2000 Einwohnern gelten.

 

Zur Anglisierung der weltlichen Strukturen kommt die der geistlichen. Ein wenig wie auf der Insel der Iren waren mönchische Gemeinschaften (clasau) und zentrale Kirchen eng verbunden, Äbte waren des öfteren zugleich eine Art Bischöfe. "Die Kanoniker teilten zwar ein gemeinsames Einkommen, lebten aber wie Weltgeistliche  und waren oft verheiratet; sie vererbten ihre Klerikerstellen deshalb auch auf ihre Söhne." (Borgolte, S.124) Immerhin waren diese Institutionen Zentren eines lateinischen Christentums und der Tradierung antik-römischer Texte.

 

In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts wird die walisische Kirche dem Erzbistum Canterbury unterstellt und in vier Diözesen unterteilt. Die walisischen Bischöfe werden nun geistliche Vasallen der englischen Könige. Von oben bis in die Pfarreien hinein wird auch so ein weiterer Schub der Zivilisierung im Verlaufe der nächsten Jahrhunderte durchgesetzt. Tief eingreifend in den Alltag wird die langsame Durchsetzung einer lateinisch-christlichen Sexualmoral: Die relativ einfache Auflösung gescheiterter Ehen wird ebenso als sündhaft angeprangert wie die Gleichstellung unehelicher mit ehelichen Kindern.

 

Auch in Irland wird Zivilisierung über eine von außen eingeleitete Christianisierung der Sexualität und die Bindung von Macht an den individuellen Besitz von Land bzw. der Verfügung darüber durchgesetzt, was vor allem auch durch partielle Eroberung und Kolonisierung durch Skandinavier und dann Anglonormannen und die davon ausgehenden Einflüsse geschieht. 

Überall, wo diese die Verhältnisse nicht durchgreifend ändert, gelingt es zum Beispiel nicht, eine konsequente Monogamie durchzusetzen

 

Zwar gibt es wie etwas später in Wales auch eine Regionalisierung der Machtverhältnisse, die die Insel in Ulster, Leinster, Munster und Connacht aufteilt, aber die Schwäche des Häuptlingstums im Unterschied zu englischem Königtum führt wie in Wales zu keiner überregionalen Herrschaft. Ähnlich wie Geoffrey von Monmouth für Wales entwickeln so irische Geschichtserzähler schon im 11. Jahrhundert ein legendäres und ruhmreiches irischen Königtum von Tara. 

 

Etwa in derselben Zeit, in der Wales der englischen Kirchenorganisation unterworfen wird, erhält auch Irland eine solche nach römischem Muster mit Bischöfen und Diözesen und Klöstern nach kontinentalen Vorbildern. Damit kann der Kampf gegen das aufgenommen, was in Irland wie in Wales vom lateinischen Christentum als sexuelle Freizügigkeit bzw. Unmoral angesehen wird: Häufige Scheidungen bzw. das eigenhändige Verstoßen unliebsam gewordener Ehefrauen insbesondere in den Kreisen der Reichen und Mächtigen, Polygamie dort, wo man es sich leisten kann und fehlende Diskriminierung unehelicher Kinder.

 

Der kirchlichen Durchdringung Irlands geht unmittelbar die Eroberung der Südosthälfte der Insel  durch die Anglonormannen/Engländer voraus, welche die Iren auch schon mal Sachsen nennen. Vorausgegangen war der Versuch von Diarmait Mac Mucharda, mit Hilfe von walisischen und flämischen Söldnern und des Earls of Pembroke ("Strongbow") ein irisches Hochkönigtum zu errichten. Nun greift König Henry II. ein und erobert in den 70er Jahren des 12. Jahrhunderts mit einer Flotte von rund 400 Schiffen große Teile der Insel.Er erklärt sich zum Herrn von Irland und behält Wexford, Waterford und Dublin für die Krone. 1077 macht er Sohn John zum Lord of Ireland. Barone der Wesh Marshes wie Strongbow erobern für sich Leinster bzw. Hugh of Lacy Meath. Die irischen Herrscher werden abgedrängt. Eine Infrastruktur von Orten, Straßen, Brücken und Burgen soll der Ausbeutung des Landes dienen.

1187 erkennt der Papst ein Königreich Irland an, welches der König seinem Sohn John anvertraut.

Die Königsmacht in Irland bleibt schwach, weniger wegen der Autonomie der übrigen keltischen Teilfürstentümer, sondern einmal wegen der bald einsetzenden Abwesenheit der anglonormannischen Könige und zum anderen wegen der zunehmenden Macht "englischer" Barone auf irischem Boden. Immerhin zieht die englische Krone erhebliche Summen aus dem Land.

 

Im 13. Jahrhundert beginnen diese Barone durch systematische Ansiedlung von Engländern eine über die kirchlichen und weltlichen Machtstrukturen hinausgehende ethnische Anglisierung. Heimische Iren werden von den weltlichen und geistlichen Ämtern zunehmend ausgeschlossen, was sogar Papst Honorius III. zu heftigem Protest und zum eher vergeblichen Eingreifen eines Legaten bewegt.

 

Zwischen der englischen und der schottischen Krone wechselt die Beziehung zwischen Partnerschaft und kriegerischem Konflikt, wobei die schottischen Könige erkennen, dass die Strukturen der römischen Kirche, des kontinentalen Klosterwesens ebenso ihrer Machterweiterung dienen wie eigener Burgenbau, durch Lehen und Vasallität begründetes Militär und die Förderung der Anlage von Städten und die Privilegierung von Markt und Handel samt eigener königlicher Münze. Die Städte sind Momente einer durchgreifenden Überfremdung, nicht zuletzt auch, weil in ihnen Engländer, Flamen und Nordfranzosen angesiedelt werden, die ihre Gewerbe von der Tuchproduktion bis zu Metallgewerben mitbringen.

Übernommen wird auch eine Hofhaltung, wie sie im anglonormannischen Reich und auf dem Kontinent üblich geworden war.

 

Im selben 12. Jahrhundert wie in Wales und Irland wird die römische Kirchenorganisation durchgesetzt und die mit ihr verbundene Sexualmoral, die sich auch hier gegen die Auflöslichkeit der Ehe, die Polygamie, Priesterehe und laschen Gebrauch der Sakramente wendet. In dieser Zeit beginnt auch die Einführung des Kirchenzehnten in nun eingerichteten Pfarrbezirken, Vorläufer aller späteren weltlichen Steuern. Zudem beginnt der Import kontinentaler Klosterformen.

Dieser von den schottischen Königen zwecks Machtsteigerung vorangetriebene Prozess der Zivilisierung führt so einmal zur mal größeren, mal geringeren Unabhängigkeit Schottlands, andererseits aber zur Überfremdung durch die eigene Krone selbst. Diese gelingt aber bis durchs späte Mittelalter vor allem im Kernland der Lowlands, während die Highlands, der große Norden und die Inseln im Westen ihr keltisches Wesen und ihre skandinavischen Einflüsse behalten und nur unter eine lockere Oberhoheit geraten.

 

 

Die Betrachtung der späten Zivilisierung der Nordgermanen (und zudem der Lappen/Samen und Finnen) Skandinaviens wird dadurch erschwert, dass hier der inzwischen etwas zivilisierte Nachbar Norddeutschland mit einer gewissen Schriftlichkeit klerikaler und mönchischer Kreise entfernter ist und auch nicht durch Eroberung Kenntnis von den nördlichen Nachbarn gewinnt. Mit dem Danewerk und der Ostsee ist Skandinavien recht umfassend vor fremden Völkern geschützt.

Mehr noch als einst die germanischen Lande östlich des Rheins und nördlich der Donau sind diese Nordgermanen und ihre nördlichen und östlichen Nachbarvölker von römisch-imperialem Einfluss abgeschottet und bleiben dies auch zunächst von den Reichsbildungen im Süden und Westen, soweit sie nicht selbst wie in Britannien daran teilhaben. Dann ist es aber doch das nächstgelegene Dänemark, welches als erstes im 11. Jahrhundert Königtum und Christentum mit seiner römischen Kirchenorganisation aus dem Süden übernimmt. Kurz darauf folgt Norwegen, wo sich das Christentum etwas mühsamer durchsetzt. Ein gemeinsames Königtum der Svear und Götar setzt sich mit der Herausbildung eines "Schweden" und einer Diözesanorganisation erst im 12. Jahrhundert durch und vereinnahmt dann die finnischen Volksgruppen nebenan. Von der Rus aus werden Samen und Karelier schließlich orthodox christianisiert.

 

Was die Nordgermanen verlieren, beschreibt Adam von Bremen für das ausgehende 11. Jahrhundert am Beispiel der zentralen Kultstätte der Svear in Alt-Uppsala mit eingestreuten Übertreibungen dessen, der das nur vom Hörensagen her kennt, aber immerhin in Dänemark war und dort Berichte aus oder über Schweden erhalten hat: 

 

Die Übersetzung nordgermanischer Verhältnisse in antik-römische und lateinisch-christliche ist unübersehbar, wenn Adam von Tempeln (gar goldenen!) statt eher einfachen Kultstätten spricht und von Königen statt Häuptlingen . Die im Vergleich zur Kirche recht geringe Macht der "Priester" als Durchführer des Opfers bleibt implizit ebenso wie die Tatsache, dass die Opfer keine Abgaben an Menschen, nämlich Priester, sind, sondern an die Vertreter der Naturmächte, und wie die weitere, dass an sich üblicherweise diese Opferkulte sehr dezentral sind.

So heißt es an anderer Stelle bei Adam :

Die Opferfeier geht folgendermaßen vor sich: von jeder Art männlicher Lebewesen werden neun Stück dargebracht; mit ihrem Blute pflegt man die Götter zu versöhnen. Die Leiber werden in einem den Tempel umgebenden Haine aufgehängt. Dieser Hain ist den Heiden so heilig, dass man glaubt, jeder einzelne Baum darin habe durch Tod und Verwesung der Schlachtopfer göttliche Kraft gewonnen. Da hängen Hunde, Pferde und Menschen; ein Christ hat mir erzählt, er habe 72 solche Leichen ungeordnet nebeneinander hängen sehen. Im übrigen singt man bei solchen Opferfeiern vielerlei unanständige Lieder, die ich deshalb lieber verschweigen will.

 

Die Einrichtung von periodischen Versammlungen vor allem der Großen in Thingen fördert ein Wahlkönigtum. In Thingen "wurden Erbangelegenheiten, und Eigentum an Grund und Boden geregelt, Sklaven freigelassen, politische Debatten geführt , soziale Kontakte jeder Art gepflegt, einschließlich des Kaufs und Verkaufs von Alltagswaren, nicht zuletzt aber auch sportliche Wettkämpfe abgehalten und religiöse Kulte" gepflegt. (Borgolte, S.157). Hier werden auch Könige gewählt bzw. bestätigt und in einigen werden Gesetze erlassen, weswegen die Könige versuchen, diese unter ihre Kontrolle zu bringen. Damit werden sie nach und nach, am spätesten in Schweden, zu Zentren von Verwaltungseinheiten, aus denen dann auch oft Städte hervorgehen. 

 

In Dänemark und Norwegen wird in diesem Prozess der Zivilisierung die Kirche größter Landbesitzer, während in Schweden Bauern bis tief ins späte Mittelalter noch über die Hälfte des Landes verfügen und Finnland weiter im wesentlichen bäuerlichen Grundbesitz kennt. Langsam entwickelt sich mit dem Königtum ein Adel.

 

 

Einen bemerkenswerten Sonderfall stellt Island dar, welches überhaupt erst ab 870 besiedelt wird, und zwar von kaum anzivilisierten Norwegern vor allem. Immer wieder auf Getreidelieferungen aus Norwegen angewiesen, entstehen auf dem kargen Land in Küstennähe vereinzelte Bauernhöfe und es kommt nicht einmal zur Konzentration in Dörfern, geschweige denn Städten. Mitgebrachte Sklaven werden im Verlauf der Zeit freigelassen, so dass die Isländer ein Volk von Freien sind, um die Jahrtausendwende bereits eine Seltenheit im Abendland.

 

Besonders wohlhabende und anerkannte Bauern erhalten eine Art schwachen Häuptlingsstatus dadurch, dass einzelne Bauern ihnen Aufgaben der Einberufung von Gerichtstagen und Festsetzung von Warenpreisen übertragen. (Borgolte, S. 212). Sich einem anderen gothi anzuschließen, stand jedem Bauern (bondi) jederzeit frei.

Mehrmals im Jahr berufen die Häuptlinge Thinge ein, auf denen vor allem Konflikte der Bauern untereinander geklärt werden sollen. Das Gewohnheitsrecht zielt dabei auf Kompromis-Lösungen ab, Gerichtstage sollen also in strittigen Angelegenheiten vermitteln, wobei die Parteien im Kern immer selbst eine Lösung finden sollen und im Notfall eine Fehde bis hin zur Blutrache durchführen. Weder Grundbesitz, noch das Recht und auch nicht die Kulte vermitteln Herrschaft.

Auf dem wichtigsten Thing im Sommer wird nicht nur Gericht gehalten und werden Dinge von allgemeiner Bedeutung besprochen, sie sind auch Treffpunkt für Händler, Ort des Gedankenaustausches und des Anknüpfens von Ehen.

 

Die Zivilisierung beginnt um die Jahrtausendwende damit, dass der norwegische König für Island das Christentum durchsetzt, welches es in einzelnen Familien bereits gibt. Die Durchsetzung eines kontinentalen, kirchlich sanktionierten Christentums wird mehrere Jahrhunderte dauern. Zunächst gibt es selbsternannte Wanderbischöfe, im Verlauf des 11. Jahrhunderts sehen einzelne Häuptlinge mit der Annahme des Bischofsamtes die Chance, ihren Status zu erhöhen. Damit setzt eine Reduzierung der Zahl der Häuptlinge ein. Um 1100 wird ein Kirchenzehnter eingeführt, im 12. und 13. Jahrhundert wird dann nach und nach die Kirchenreform des 11. Jahrhunderts auf der Insel durchzusetzen. Aber bis ins 13. Jahrhundert sind Bischöfe und Priester verheiratet und haben eine Familie. Die christliche Version der Ehe braucht genauso lange, bis sie sich durchsetzt.

 

Im 13. Jahrhundert gelingt es dann den norwegischen Königen, die nunmehr vom Erzbistum Trondheim aus kontrollierte Kirche sich genauso unterzuordnen wie die wenigen verbliebenen Häuptlinge, die von ihnen lehnsabhängig werden. Jarle kontrollieren Island in ihrem Auftrag und sorgen dafür, dass zum Kirchenzehnten nun auch weltliche Abgaben an den König fließen. Ansonsten bleiben aber weite Teile des tradierten Gewohnheitsrechtes bestehen.

 

Die Kulturen anzivilisierter ostrheinischer Völkerschaften von Germanen sind bereits durch Integration in das Reich der Franken weitgehend zerstört worden. Was blieb waren die bäuerlichen Kulturen der Dithmarscher und Holsten. Diese zu zerstören sah Adolf von Schauenburg, unterstützt von Heinrich ("dem Löwen"), als vordringliches Ziel an. Helmold von Bosau, wie seine Kirche an der Zerstörung traditioneller Kulturen interessiert, schreibt dazu:

Viel Mühe gab er sich, die aufsässigen Holsten zu bändigen; das ist nämlich ein freiheitsliebendes, halsstarriges Volk, bodenständig und wild, das das Joch des Friedens nicht tragen wollte. Doch dieser Mann überwand sie mit Klugheit (...) Mit bezaubernden Gesängen kockte er sie heran, bis er diesen, ich möchte sagen: ungezähmten Wildeseln den Zaum übergeworfen hatte. (in: Ehlers, Heinrich, S.63)

Andere äußern sich noch grobianischer, aber der Grundtenor wird bis heute derselbe bleiben: Entweder Freiheit oder Friede, Friede ist Unfreiheit und Freiheit wird mit Krieg beseitigt.

 

Die Dithmarscher Bauern werden sich etwas länger halten. 1144 erschlagen sie ihren hohen Herrn, den Grafen von Stade. Als dann Heinrich ("der Löwe") sein Erbe antreten kann, wird er einen "Rache"feldzug starten und einen Grafen über Dithmarschen einsetzen, aber ohen dass der viel ausrichten kann. Bis ins 16. Jahrhundert können sie ihre Freiheiten und ihr eigenes Recht auch militärisch verteidigen, auch nach Christianisierung, um dann allerdings auch ihrer Kultur beraubt zu werden.

 

 

Kelten, Germanen und Slawen sind Namen für indogermanische Sprachgruppen, die darüber hinaus auch gewisse andere Gemeinsamkeiten haben. Die slawische Völkerwanderung, die vielleicht von dem Gebiet zwischen Karpaten und Dnjepr ausgeht, liegt dabei so im Dunkel wie die Anfänge der germanischen, auf die sie folgt. Sie besetzt im Nordwesten Gebiete, die Germanen verlassen haben, und überrennt im Süden solche des ehedem römischen Imperiums und solche Ostroms bis nach Griechenland.

 

Die Stämme und Kultverbände durchlaufen vorrangig Zivilisierung unter dem Einfluss von außen: Warägische Händler, Skandinavier, entwickeln Handelsposten zwischen Nowgorod und Kiew, die sich zu Städten entwickeln, und von solchen Städten aus entstehen die warägischen Fürstentümer der Rus, die zunächst die Gebiete freier Bauern kontrollieren.

Nordwestslawen bilden in Kernpolen, Böhmen und Mähren unter dem Einfluss der deutschen Lande Fürstentümer, die sich durch Ausweitung zu Königreichen entwickeln. Durch Kriege und später überwiegend deutsche Kolonisierung und Städtegründungen werden die Stämme zwischen Elbe und Oder zivilisiert und dem römisch-deutschen Reich eingegliedert.

 

Wenn bei indoeuropäischen Kulturen seit langem von Polytheismus die Rede ist, so ist das leicht misszuverstehen, da es sich dabei nicht um Götter von der Art derer von Juden, Christen und Muslimen handelt. Vielmehr wird in der Vorstellung die eine Kraft der Natur in ihren verschiedenen Aspekten gesehen. Dementsprechend kann Adam von Bremen über die später von Westen her kolonisierten Slawenstämme zwischen Elbe und Oder schreiben:

Bei all den vielgestaltigen Gottheiten, mit denen sie Fluren und Wälder, Leiden und Freuden beleben, leugnen sie doch nicht, dass ein Gott im Himmel über die übrigen herrsche; dieser Allmächtige sorge nur für den Himmel, die anderen aber gehorchten ihm im anvertrauten Pflichtkreise, seien aus seinem Blute hervorgegangen, und jeder von ihnen sei umso vornehmer, je näher er dem Gott der Götter stehe. (in: Borgolte, S.244) 

Da hinein geflochten ist der Versuch des Autors, diese Vorstellungswelt nicht nur mit der der römischen Antike zu analogisieren, sondern auch mit der der christlichen, um das alles für sich verständlich zu machen. Dabei unterläuft ihm sicher als Fehler der "allmächtige" Gott im "Himmel" mit seinen Verwandtschaftsbeziehungen. Einmal gemeint sein könnte der teilweise zumindest vorhandene zentrale Kult eines Stammes, der sich auf ein alle einigendes Kultobjekt konzentriert, zum anderen kann man vermuten, dass Adam nicht zwischen Kult und Mythos unterscheidet, da ja das Christentum eine Unterscheidung zwischen Messopfer und evangelischer Geschichte zwischen Passion und Himmelfahrt nicht erlaubt, die nicht als Mythos aufgefasst werden darf, und das ja auch nicht ist, sondern eine Art phantasierte Heiligenlegende.

 

Helmold von Bosau ist näher dran und trotz fragwürdiger Details der bessere Beobachter:

Außer Hainen und Hausgöttern, von denen Fluren und Ortschaften voll waren, wurden am meisten verehrt Prove, der Gott des Oldenburger Landes, Siwa, die Göttin der Polaben, und Radigast, der Gott im Gebiet der Abodriten. (...) Unter den vielgestaltigen Gottheiten der Slawen ragt Swantewit hervor, der Gott von Rügen; (...) darum opfern sie ihm zu Ehren alljährlich einen Christen, auf den das Los gefallen war. Sie schicken dorthin aus allen slawischen Ländern festgesetzte Abgaben zu den Opfern. (Helmold in: EhlersHeinrich, S.61)

 

Weiter östlich, am Mittellauf der Wolga, liest sich die Beschreibung einer Totenfeier von Rus-Kaufleuten, die einen Anführer bestatten, schon weniger nett. Sie stammt von 922 von Ibn Fadlan aus Bagdad. Eine junge Sklavin wird ausgesucht, mitbestattet zu werden. Sie wird alkoholisiert, dann begatten sie sechs ausgesuchte Männer in einem Zelt. Eine mit dem Totenkult besonders beauftragte Frau soll die Sklavin töten:

Zwei Männer fassten sie bei den Füßen, und zwei bei den Händen. Darauf legte die Alte , die man den Todesengel nennt, ihr einen quergezogenen Strick um den Hals und reichte ihn dann zwei Männern, die ihn an den beiden Enden zuzogen. Dann trat die Alte hinzu und hatte dabei einen breitspitzigen Dolch und begann, ihn ihr in die Rippen zu stoßen und herauszuziehen, und die beiden Männer würgten sie mit dem Stricke, bis sie tot war. (so in: Hansen, S.120)

 

Die traditionsgeleiteten, naturnahen und nur leicht anzivilisierten und noch stark Gemeinschaften bildenden Nordwestslawen, in manchem den Sachsen vor der Unterwerfung durch Karl ("den Großen") durchaus ähnlich, kannten noch ein weiteres Element des Miteinanders, welches unter Bedingungen von Zivilisierungen erheblich zurückgedrängt wird. Für 1156 berichtet Helmold folgendes über den von Adolf von Schauenburg unterworfenen Pribislaw anlässlich der Feier eines Epiphaniasfestes in Oldenburg:

Von den Slawen waren keine Zuhörer da außer Pribislaw und einigen wenigen. Als das heilige Amt vollzogen war, lud Pribislaw uns in sein Haus, das an einem fernen Ort lag. Dort empfing er uns eifrig bemüht und gab uns ein ansehnliches Gastmahl. Dort habe ich selbst erfahren, was ich vorher nur vom Hörensagen wusste, dass kein Volk, was Gastlichkeit anlangt, ehrenwerter ist als die Slawen.

(1.83)

 

Wie die dänische und dann deutsche Zivilisierung zunächst gelingt, zeigt das westliche Abodritenland. In Alt-Lübeck (Liubice) herrscht ein Fürst Heinrich, der offenbar eng mit Lothar III. (von Supplingenburg) verbündet ist. Nachdem der Slawenfürst und seine Söhne ermordet werden, zerfällt das Abodriten"reich" in mehrere Teile, und den Westen erobern die Grafen von Holstein und Ratzeburg. Derweil kauft um 1128 der Jarl von Schleswig für schweres Geld das Abodritenreich (...) und der Kaiser setzt ihm eine Krone aufs Haupt, dass er König über die Abodriten wäre, und nahm ihn als Lehnsmann an. (Helmold, Slawenchronik, Kap.49) Knut ist mit einer Nowgoroder Prinzessin verheiratet.

Nachdem auch Knut ermordet wird, bemächtigt sich Lothar des Gebietes und lässt die Burg Segeberg errichten. Aber kaum dass Lothar 1137 stirbt, verwüsten Slawen Alt-Lübeck. Nachdem König Konrad das Herzogtum Sachsen an Heinrich ("den Löwen") vergeben hat, verleiht dieser 1142 Holstein und Wagrien an Adolf II. von Schauenburg, während sein Vorgänger dort zum Grafen von Ratzeburg wird.

 

 1143 eingeladen von einem mächtigen Slawen, treffen Adolf von Holstein und sein Gefolge auf einen heiligen Hain der Slawen,

und es rief uns der Bischof auf, tüchtig zuzupacken und das Heiligtum zu zerstören. Es sprang auch selbst vom Pferd und zerschlug mit seinem Stab die prächtig verzierten Vorderseiten der Tore; wir drangen in den Hof ein, häuften alle Zäune um die heiligen Bäume herum auf, warfen Feuer in den Holzstapel und machten ihn zum Scheiterhaufen, in steter Angst, von den Eingeborenen überfallen zu werden. Doch Gott schützte uns. (Helmold, 1.84)

Abwechselnd verlangen Slawen, für die Konvertierung ihre alten Rechte zu behalten oder aber sich den christlichen Zivilisatoren zu unterwerfen, wenn sie ihren alten Glauben behalten könnten. Aber die christlichen Krieger verlangen beides.

 

Graf Adolf baut die Siegesburg/Segeburg als Herrschaftszentrum wieder auf und unterstützt die Missionierung in seinem Gebiet. Diese wird flankiert mit Kolonisierung, wie Helmold von Bosau beschreibt:

Da das Land verlassen war, schickte er Boten in alle Lande, nämlich nach Flandern und Holland, Utrecht, Westfalen und Friesland, dass jeder, der zu wenig Land hätte, mit seiner Familie kommen sollte, um den schönsten, geräumigsten , fruchtbarsten, an Fisch und Fleisch überreichen Acker nebst günstigen Weidegründen zu erhalten (...) Darauf brach eine zahllose Menge aus verschiedenen Stämmen auf, nahm Familien und Habe mit und kam zu Graf Adolf nach Wagrien, um das versprochene Land in Besitz zu nehmen. (Helmold, S.211f)

 

Holsten siedeln nun zwischen Segeberg und Plön, Westfalen östlich von Segeberg, Holländer um Eutin, Friesen südöstlich davon. Slawen und Deutsche wohnen nebeneinander und ganz bleibt Slawen nur noch (zunächst) das Oldenburger Land überlassen.

 

Nach und nach erobert Graf Adolf das Gebiet (Wagrien) und gründet nahebei 1144 Lübeck neu. Von hier aus dehnt die Stadt dann ihren Einfluss in Richtung südliche Ostseeküste aus. Bistümer, Städte, Burgen strukturieren den Prozess der Zivilisation und damit den der Zerstörung gewachsener Kulturen. Die Sachsen machen mit den Nordwest-Slawen nun das, was ihnen einst von den Franken widerfahren war.

 

Das Gebiet zwischen Trave, Elbe und Oder ist einmal deutscher Siedlungsexpansion ausgesetzt und zum anderen der Gegenwehr anzivilisierter slawischer Stämme wie der Obodriten und der Heveller. Offenbar taucht immer einmal wieder in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts der Gedanke eines Kreuzzuges gegen die "heidnischen" Wenden auf, der 1147 in einem Aufruf Bernhards von Clairvaux gipfelt.

Ein Heer unter Albrecht ("dem Bär") zieht von Magdeburg aus in das Gebiet der Heveller und Liutizen los, ein zweites unter Heinrich ("dem Löwen") in das der Obodriten. In beiden Heeren sind hohe geistliche Würdenträger.

Slawische Kultstätten werden zerstört, wenig nachhaltige Zwangstaufen werden abgehalten und daran dann Herrschaftsansprüche der beiden Fürsten gekoppelt. Mehrere Bistümer werden wiederhergestellt (Havelberg, Brandenburg, Mecklenburg, Oldenburg), aber der machtpolitische Erfolg reduziert sich zunächst auf den kirchlichen Zugriff auf solche kirchliche Inseln. Erst in der Folge kommt es zu verstärkter Ansiedlung von deutschen Bauern.

 

Als Slawenfürst Niklot 1160 nicht auf einem Landtag in der Nähe von Lauenburg erscheint, beginnt Heinrich ("der Löwe") einen brutalen Verwüstungsfeldzug durch das Slawenland, der in der Tötung Niklots in einem Hinterhalt endet. Seinen Kopf bringen die Krieger ins Lager des Welfenfürsten. (Helmold 1.88) Große des Welfen werden dort nun auf Burgen verteilt.

 

1164 beteiligt sich Graf Adolf II. erneut an einem Feldzug Heinrichs ("des Löwen") gegen die aufständischen Söhne Niklots, die erst im Bündnis mit Waldemar von Dänemark besiegt werden können und in die Wälder fliehen. Heinrich erhält nun das ganze Abodritenland und die Lehnshoheit über slawische Fürsten von Demmin und Stettin. Das Gebiet von Wolgast fällt an Waldemar.

1163 gelingt Waldemar im nunmehr funktionierenden Bündnis mit slawischen Fürsten die Eroberung von Rügen mit der Zerstörung des Heiligtums der Ranen Arkona. Als der Dänenkönig nichts von der Beute abgeben will, ruft Heinrich die Slawenfürsten zum Kampf gegen ihn auf: Man hat mir erzählt, dass in der Mecklenburg an einem Markttag siebenhundert gefangene Dänen gezählt wurden, alle verkäuflich, wenn nur Käufer genug dagewesen wären. (Helmold 2,109) Nun werden auch Zisterzienser in größerem Umfang angesiedelt, die dem Werk der Zivilisierung einen neuen Schub hionzufügen.

 

Das Fazit, welches der Pfarrer Helmold von Bosau am Ende seiner Slawenchronik zieht, lautet so: Mehr als alle Herzöge vor ihm, mehr als selbst der gefeierte Otto, hat er die Kraft der Slawen gebrochen und ihnen den Zaum ins Gebiss geschoben. (2.109). Und:

Das ganze Gebiet (...) ist nun durch Gottes Gnade vollständig verwandelt worden, gleichsam in eine einzige Kolonie der Sachsen; dort werden Städte und Dörfer angelegt, dort vervielfacht sich die Zahl der Kirchen und der Diener Christi. (Helmold 2.110)

 

Im Süden sind die Karantanen seit dem 9. Jahrhundert einem Bajuwarisierungsprozess ausgesetzt.  Slowenen (Slavonen), Kroaten und Serben in Vermischung mit den Einheimischen bilden Völker aus, die auf ehedem oströmischem Gebiet siedeln. Erst in Kerngriechenland, wo Slawen vor allem auf die Peloponnes einwandern, und in Ungarn können sich slawische Idiome nicht mehr durchsetzen.

 

Mit den Piasten in Polen, den Przemysliden in Böhmen und den Arpaden in Ungarn gelingt es Dynastien, über Jahrhunderte zu herrschen und auf diesem Weg Stammeskulturen zu zerschlagen. 

Mit den Piasten gelingt es einer mächtigen Familie aus dem Stamm der Polanen (um Posen), über diesen hinaus Herrschaft zu erweitern und neben militärischer Gewalt dabei Christianisierung und Kirchenorganisation einzusetzen. Aus den vielen Burgen lokaler Häuptlinge entwickeln sich Städte, unter denen Krakau als königliche Residenz hervorragt, während Prag zum Hauptort der Przemysliden wird, von wo aus Böhmen unterworfen wird. Die Westbindung beider Reiche wird durch die Ansiedlung vor allem auch deutscher Händler und Handwerker verstärkt. Dabei hinkt das böhmische Städtewesen hinter dem polnischen zunächst bis ins späte Mittelalter hinterher.

 

Das Baltikum wird mit teils brutaler Gewalt christianisiert und in die lateinische Welt eingegliedert. Versuche der Christianisierung Livlands finden in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts gegen heftigen Widerstand statt. Ein Bistum Uexküll wird 1186 gegründe, aber da die Livländer (Esten und Letten) partout keine Christen werden wollen, stellt der Bischof ein Kreuzfahrerheer auf, welches 1198 in einer Schlacht militärisch siegt. Die folgende Zwangstaufe wird aber von den Menschen wieder zurückgenommen, sobald das Heer abgezogen ist.Bischof Albert gründet 1201 mit einer Bischofsburg das an der Düna und fast am Meer gelegene Riga, wohl schon seit Jahrzehnten eine Lübecker Handelsstation. Eine zweite Burg kommt dann an der Dünamündung hinzu.

 

Bis 1224 reist der Bischof immer wieder in deutsche Lande, um Kreuzfahrerheere anzuwerben, in denen Ritter ihrer Gewalttätigkeit religiös begründet frönen dürfen. Dazu gründet der kriegerische Bischof den 1202 den Schwertbrüderorden, der auch gegen Russen und Litauer kämpfen muss. Zuerst wird das Dünatal erobert und mit einer Kette von Burgen versehen. 1236 scheitert der Orden allerdings gegen ein Heer aus Livländern und Litauern und wird in den deutschen Ritterorden bei einer gewissen Autonomie eingegliedert.

 

Die Prussen/Pruzzen sind ein baltisches Volk, dessen Ränder zu den Slawen zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert immer stärker von polnischen Fürsten eingenommen werden, bis sie fast ganz auf das spätere Preußenland zurückgedrängt sind. Dort gelingt es ihnen, sich gegen polnische Christianisierungsversuche erfolgreich zur Wehr zu setzen und zu Gegenangriffen überzugehen. Schließlich verhandelt der Herzog von Masowien, Vasall des polnischen Königs, um Hilfe. 1230 kommt es zu einer Übereinkunft: Der Orden soll das Kulmerland und alle noch nicht "zivilisierten" Pruzzengebiete zu freiem Besitz erhalten.

Zwischen 1231 und etwa 1285 erobert der Deutschritterorden nun das Land der sich verzweifelt wehrenden Pruzzenn in blutig-brutalen Eroberungszügen. Es wird dann wie das der anderen Balten zwangschristianiert und Diözesen unterstellt, deren Domkapitel der Ritterorden kontrolliert. Im Zuge dieses Wütens wird ein Großteil der Bevölkerung getötet und durch systematische deutsche Besiedlung ersetzt.

Sehr früh werden die Städte Kulm und Thorn gegründet. "1233 gab Hermann von Salza ihnen eine Rechtsordnung (Kulmer Handfeste), die für die anderen preußischen Städte maßgebend wurde. Sie erhielten ein ausgedehntes Stadtgebiet, einen Teild er Gerichtsgefälle, das Magdeburger Stadtrecht, eine gewisse Verwaltungsautonomie, aber der Orden blieb im Besitz der Befestigungshoheit und erlegte den Bürgern einen sehr harten Wehrdienst auf." (Dollinger, S.41)

Es ist kein Zufall, dass Lübecker Kaufleute die weitgehende Vernichtung der Pruzzen durch Schiffe unterstützt und mit zur Gründung von Elbing 1237 nach lübischem Recht beitragen. Die Macht der Kirche, der Herrenmenschen und des großen Kapitals gehen Hand in Hand.

 

In der Nachbarschaft bleibt Litauen standhaft heidnisch gegen Christianisierungsversuche des Deutschen Ritterordens, was durch das späte 13. und dann das 14. Jahrhundert hindurch zu den sogenannten Preußenreisen deutscher Ritter führt, auch als Kreuzzüge deklariert, und von enormer Grausamkeit. Oft scheinen diese Züge mit ihren Metzeleien eine Art besonderes Jagdvergnügen des Adels gewesen zu sein.

 

Den Kelten, Germanen und Slawen im Kulturzustand ist zwar keine prinzipielle Friedfertigkeit zu unterstellen, aber im Unterschied zu den Christen doch zumindest eine, was ihre "Götter" betrifft. Und so schreibt Peter von Dusburg über die vom deutschen Orden schwer heimgesuchten Pruzzen Anfang des 14. Jahrhunderts:

Eines jedoch war löblich an ihnen und höchst bemerkenswert, dass sie, wenn sie auch ungläubig waren, nichtsdestoweniger Frieden mit den benachbarten Christen hielten und sie nicht an der Verehrung des lebendigen Gottes hinderten oder irgendwie belästigten. (in: Borgolte, S.245)

Das ist die verkehrte Welt eines christlichen Autors. Bemerkenswert ist die Toleranz der Kulturen tatsächlich nur, wenn sie von der von massiver Gewalt begleiteten Intoleranz der Christen (bzw. Muslime und antiken Juden) aus betrachtet wird, und an dem christlichen Gott mit seiner Natur- und Lebensfeindlichkeit ist nun gar nichts lebendig, während eben gerade die untergehenden Kulturen lebendige Naturkräfte verehrten.

 

Erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts beginnt auch die Christianisierung der Litauer, welche dann aber zunächst in keinem soliden Königtum, sondern einer Vielzahl von Burgherrschaften endet.

 

Mitten hinein in das slawische Osteuropa stoßen seit den Hunnen und Awaren immer neue nomadische Steppenvölker aus Zentralasien vor. Die Petschenegen vertreiben die Ungarn, die sich im 9. Jahrhundert an ihrem endgültigen Siedlungsgebiet niederlassen. Ein Reich der von einer jüdischen Oberschicht beherrschten Chazaren wird von Wolgabulgaren zerstört, die um 920 Muslime werden.

 

Die Westbulgaren, unter denen Slawen immer mehr Einfluss gewinnen, nehmen das orthodoxe Christentum an und werden bis ins 10. Jahrhundert Zaren unterworfen, bis dann erneut ihr Reich nach 1014/18 in Byzanz aufgeht.Erst mit ungarischer Hilfe können sie ab 1185 wieder ein eigenes Reich gründen. Ähnlich wie in Russland wird die Bauernschaft unter der harten Knute der Boljaren gehalten, und als die Bauern sich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erheben, zerfällt das Bulgarenreich, um schließlich von den Türken erobert zu werden.

Die vielen Stämme, die sich im künftigen Ungarn niederlassen, werden von einer starken Zentralgewalt zusammengehalten, die sich des lateinischen Christentums und seiner Sprache bedient und der es gelingt, im Laufe weniger Jahrhunderte ein einheitliches Reichsvolk herzustellen, in das sich auch der muslimische Bevölkerungsanteil integriert. Zu Förderung des Ackerbaus werden um 1100 Slawen angesiedelt, und in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Deutsche in Siebenbürgen, die gegen jährliche 500 Silbermark und die Stellung von 500 Rittern eine beachtliche Autonomie unter einem königlichen Grafen erhalten und ihr Volkstum bis ins 20. Jahrhundert erhalten können.

Wie auch anderswo hat die christliche Kirche mit ihren Diözesen und Pfarreien erheblichen Anteil an der Zivilisierung, wobei "heidnische" Aufstände (1046) konsequent niedergeschlagen werden. Die Kirche bleibt wie bei den süditalienischen Normannen unter starker Kontrolle der Könige. Aber erst im 13. Jahrhundert werden die Bauern Grundherren unterworfen, die einen ländlichen Adel ausbilden. 

 

Das zunehmend geeinte Reich der Rus verbündet sich um 988 mit Byzanz durch Heirat, Militärhilfe und Übertritt zur byzantinischen Orthodoxie. Im 11. Jahrhundert besiegt es die Petschenegen, deren Untergang zum Vorstoß der Kumanen, mit Mongolen verwandten Reiternomaden, im Süden bis an die Grenze Ungarns führt. 

Das entstehende riesige Russland schwankt zunächst zwischen Einflüssen aus dem Norden und Westen, aus Byzanz und von den asiatischen Völkerschaften. So wird das Christentum aus Ostrom kombiniert mit der Einführung des römischen Kirchenzehnten. Der asiatische Einfluss nimmt dann massiv zu, als die Mongolen sowohl die Kumanen wie die Wolgabulgaren und die Russen unterwerfen. 1257 fiel als letzte russische Stadt Nowgorod. Nunmehr Teil der Goldenen Horde, behalten die Russen zwar ihre orthodoxe Religion, werden aber stärker aus den Entwicklungen im lateinischen Abendland herausgehalten, was Konsequenzen bis heute haben wird.

 

In diesem Russland unter den Nachkommen des Warägers Rurik bis zur Mongolenherrschaft findet die Zerstörung der Stammeskulturen einmal durch Unterwerfung unter von Städten aus herrschenden Fürsten statt, die mit der druschina, ihrem bewaffneten Gefolge, in ihren Herrschaften Abgaben einsammeln, zudem vermittels der sich langsam vermischenden vielen Völkerschaften, wobei sich wirkliche und ideelle Verwandtschaftsverbände auflösen; dann auch wie überall durch die Christianisierung, und schließlich durch die Unterwerfung der bis dato freien Bauern im 11./12. Jahrhundert unter Klöster und Adel ab. Im 13. Jahrhundert scheint die bäuerliche Freiheit  der smerdy zur Gänze zu verschwinden. Neben den Klöstern ist die nunmehr unfreie Landbevölkerung nun zusammen mit Sklaven Grundherren unterworfen, den Bojaren, die selbst in Städten residieren und Verwalter für ihre Grundherrschaften haben. Extreme bäuerliche Unfreiheit, geringe bürgerliche Freiheiten in den Städten und Mongolenherrschaft werden dafür sorgen, dass Russland sich weitgehend anders als das lateinische Abendland entwickelt und für die Entfaltungsgeschichte des Kapitalismus noch mehr ausfällt als Byzanz.

 

Die westslawischen Reiche (samt Ungarn) werden von außen in die Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus integriert, den die Herrscher bald zu fördern beginnen. Im Norden ist es die Hanse, die das Baltikum zunächst dem Handelskapitalismus erschließt, im Süden Venedig, welches auf die Adriaküste und bis in die Küstengebiete von Byzanz übergreift. Die Machthaber in Polen, Böhmen und Ungarn wiederum fördern sowohl Handel wie Handwerk nicht zuletzt auch durch Einwanderung aus dem Westen.

 

 

Anmerkungen zu Welten

 

Anmerkung 1 Im Tristan des hochgebildeten und vermutlich bürgerlichen Gottfried kulminiert der Sexus als raffinierter Eros und orgiastische erotische Phantasie eingebettet in einen quasi-sakralen Raum, dem zwar nicht der versteckte christliche Einfluss, aber jedes unmittelbar religiöse Gedankengut abgeht, in dem Kirche und Christentum Randphänomene bleiben wie bürgerliche Lebensformen, in einem Phantasialand erotischer Fluchten. Jenseits eines in einen Fiebertraum hochstilisierten gefeierten Eros verendet der Sexus aber im Schmerz, seiner extrem formulierten anderen Seite.

Was Gottfried verloren scheint, taucht bei ihm als Idealbild von Liebe, von rechter Minne im Tristan auf:

 

Ez ist vil wâr, daz man dâ saget: / «Minne ist getriben unde gejaget (Liebe ist vertrieben und verjagt) / in den endelesten ort.» / wirn haben an ir niwan daz wort. (nur das Wort ist geblieben) / uns ist niwan der name beliben / und han ouch den alsô zetriben, (und der ist zerredet) / alsô verwortet und vernamet, / daz sich diu müede ir namen schamet /  und ir daz wort unmaeret. (sie mag das Wort selbst nicht mehr).

(...) Minne, aller herzen künigîn, diu vrîe, diu eine

diu ist umbe kouf gemeine! - die ist käuflich geworden / wie habe wir unser hêrschaft / an ir gemachet zinshaft! (bei ihr zum Gelderwerb gemacht)

(...) wie vertuon wir unser leben /  âne liep und âne guot! (ohne Liebe und Güte) /

 (Tristan, Kapitel 17, Zeilen 12279ff)

 

"Wie vertun wir unser Leben ohne Liebe und ohne Güte." In einer der schönsten Textpassagen aus der Blütezeit deutscher Literatur, die völlig ohne Gott, Christus und ewiges Leben auskommt, wird in Unterstellung früherer, besserer Gegebenheiten der Einfluss des alles durchsetzenden Kapitalismus  auf die Lebensverhältnisse am gravierendsten Beispiel deutlich gemacht: Sogar die Liebe ist, wie die Freundschaft, aus der sie hervorgeht, käuflich geworden und auf den Markt getragen. Das "Herz" wird vom Geld regiert, die innigsten Gefühle sind wohlfeil geworden.

 

Anmerkung 2 Unter Friedrich I. ("Barbarossa") nimmt das Unheil seinen Lauf im Zuge seiner vielen kriegerischen Versuche, wenigstens Norditalien gewinnbringend unter seine Kontrolle zu bringen. 1159 kommt es zur Doppelwahl von Alexander III. und Victor IV. Das gespaltene Kardinalskollegium wählt sowohl den normannenfreundlichen Alexander III., der Barbarossa schon durch Überbringung des Hadriansbriefes nach Besancon negativ aufgefallen war, wie auch Viktor IV. Letzterer wird fast ohne Teilnahme von Kardinälen gewählt und soll von Geldern Ottos von Wittelsbach profitiert haben. Er wird daher nur von der stauferfreundlichen Partei anerkannt.

 

Beide Päpste beginnen sofort damit, Bischöfe zu weihen, was die Kirchenspaltung vor allem in die deutschen Lande hineinträgt. In Bayern zum Beispiel stellt sich das Erzbistum Salzburg, in der Fläche fast identisch mit dem Herzogtum, hinter Alexander. Die englischen und französischen Könige entscheiden sich ebenfalls für ihn, während der Kaiser auf Victor setzt. 1161 wird die Lage für Alexander in Rom so bedrohlich, dass er nach Frankreich flüchtet, von wo er erst 1165 wieder zurückkehren kann. 1164 stirbt Papst Victor in Lucca, wohin Rainald von Dassel eilt, um dort mit den stauferfreundlichen Kardinälen, Prälaten und dem Stadtpräfekten von Rom Paschalis III. zum neuen (Gegen)Papst küren zu lassen.

 

Kurz darauf kommt es zum Konflikt um die Konstitutionen von Clarendon und das Schicksal Thomas Beckets. Henry II. sucht mit der Heirat seiner Tochter Mathilde mit dem Welfen Heinrich und einer weiteren mit Friedrich von Schwaben Verbündete zu finden. Dennoch wendet sich der Staufer nach der Ermordung von Thomas Becket 1170 vom Engländer ab und dem französischen König zu. Die welfische Verbindung zu England bleibt aber bestehen.

 

Auf dem vierten Kriegszug des Kaisers gegen Italien findet die Unterwerfungs- und Verwüstungspolitik gegen die norditalienischen Städte in der Lega Lombarda ihren mehr als gleichwertigen Gegner im Bund mit Papst Alexander. Dennoch zieht Friedrich weiter nach dem von einem kaiserlichen Heer belagerten Rom, greift die Engelsburg, St.Peter und eine weitere Kirche an, die verbrennt, worauf Alexander III. nach Benevent flieht. Als dann eine verheerende Seuche ausbricht, muss das Heer nach Norden fliehen.

 

Nachdem Kaiser Heinrich VI. immer mehr als Feind der Kirche angesehen wird, tritt mit Innozenz III. (Lothar von Segni, 1198-1216) ein neuartiger Papst auf. Er wird in Paris theologische und in Bologna juristische Schulung erfahren. Sein frühes päpstliches Augenmerk richtet er auf die schon von Gregor VII. u.a. im 'Dictatus Papae' formulierte universale Kirchenherrschaft und ihren Wahrheitsanspruch. Nach seiner Wahl 1198 erklärt er über den Status des Papstes:

Er stehe zwischen Gott und Mensch in der Mitte: unter Gott, doch über den Menschen, geringer als Gott, doch größer als ein Mensch. Er richtet alle und wird von keinem gerichtet. (in: Dinzelbacher, S.144)

 

Er ist sozusagen als Halbgott eine Art Diktator. Beim 4. Laterankonzil wird eine Beichte pro Jahr zur Christenpflicht erklärt und damit die individuelle Gewissenserforschung betont. Die Ketzerverfolgung soll intensiviert werden. Innozenz drängt zur Rückgewinnung der "Heiligen Stätten" auf einen vierten Kreuzzug.

Auf diesen selbst hat er dann keinen Einfluss. Die Bettelorden werden anerkannt und mit diesen, die nicht mehr in ihre Klöster zurückgezogen sind, beginnt eine neue, modernisierte Christianisierungswelle vor allem in den Städten.

 

Mit Innozenz IV. aus dem mächtigen Hause der Genueser Fieschi wird die Arroganz der Päpste noch einmal ausgebaut. Gegen Kaiser Friedrich II. gerichtet stellt er 1246 fest:

Die heilige und allgemeine Mutter Kirche befehligt in der ganzen Welt, da ihr hoher Gemahl Jesus Christus in allen Weltgegenden regiert und herrscht. (...) Daher besitzen die Söhne der Kirche die Macht über die gesamte Erde, ihnen wurde das Recht verliehen, auszureißen und zu zerstören, aufzubauen und anzupflanzen. (in: Dinzelbacher, S.144)

 

Wie man sieht, bleibt Gewalt weiter ein Mittel der Kirche, und Gewalt und Krieg im Sinne kirchlicher Interessen wird weiterhin befürwortet. Immer grausamere Gewalt wird in Ketzerverfolgungen ausgeübt. Schwerter werden von Priestern gesegnet und in der Kirche wird für den Sieg der eigenen Leute gebetet.

Nicht ausgelassen werden soll hier, dass extreme Askese zum Beispiel als blutige Selbstgeißelung, also als Selbst-Zufügen von Leid und Schmerz, weiter als besonderes Zeichen von Heiligkeit gilt und bei den bald auftauchenden Flagellanten dann an die schiitischen Massengeißelungen in Persien und dem heutigen Irak erinnert.

 

Anmerkung 3 Wie wenig die Vorstellungen von einer autonomen Kirche in Wirklichkeit umgesetzt werden, zeigen die Ereignisse in Trier nach dem Tod von Erzbischof Arnold (I.) 1183. Am Vorabend der Beerdigung gewinnt der Dompropst Rudolf von Wied eine Mehrheit im Domkapitel, während eine Minderheit den Archidialon Folmar aus der Grafenfamilie von Blieskastel favorisiert.

Laut Gesta Treverorum kommen nach seiner Beerdigung "Adelige, Minsterialen und auch Bürger des Bistums vor dem Dom zusammen, um gemeinsam mit dem Domkapitel und der höheren Geistlichkeit den neuen Erzbischof zu wählen." (M. Pundt in: Anton/Haverkamp, S.257) Anwesend sind auch der Pfalzgraf Konrad und der Reichsministeriale Werner von Bolanden, die für Rudolf eintreten.

 

Die Mehrheitspartei des Domkapitels tritt für eine Verschiebung der Wahl auf den Nachmittag ein und geht. Viele bleiben aber und wählen unter dem Einfluss von Herzog Heinrich von Limburg Folmar. Am Nachmittag erklären die Zurückgekehrten diese "Wahl" für ungültig.

Konrad und Werner reisen zum Kaiser, der die Kontrahenten nach Konstanz bestellt. Kaiser Friedrich I. investiert nun Rudolf von Wied. Der kann in Trier als erwählter, aber noch nicht geweihter Bischof einziehen. Heinrich VI. verfolgt nun 1184 Parteigänger Folmars in Koblenz und Trier.

 

1186 weiht Papst Urban III. Folmar zum Erzbischof. Der verbündet sich mit antistaufischen Kräften um den Kölner Erzbischof und den französischen König.  1187 verbündet sich der Kaiser mit Philipp II. ("Auguste"), so dass die Unterstützung für Folmar nachlässt. 1189 setzt Papst Clemens III. beide Kandidaten ab und fordert Neuwahlen. Als der Kaiser dann Kreuzzugspläne schmiedet, erlangt er stärkeres Wohlwollen vom Papst und kann seinen Favoriten, seinen Kanzler Johann durchsetzen, den die Trierer dann auch auf Vorschlag und Bitten des Königs wählen (Gesta Treverorum).

 

Anmerkung 4 Mit dem Aufstieg des Kapitalismus und dem steigenden Geldumlauf wird es nicht nur im weltlichen Raum immer üblicher, sich Rechte mit Geschenken zu erkaufen, was man viel später als Korruption ansehen wird, sondern genau dasselbe geschieht auch im kirchlichen Raum. Wer Wünsche an Bischof oder Papst richtet, kommt zu ihnen mit Geld bepackt, und reicht das nicht, müssen dann noch Kredite aufgenommen werden.

 

Die Kritik an dieser Praxis richtet sich verständlicherweise eher gegen die Kirche als die weltlichen Herren, von denen man ohnehin nichts anderes erwartet. Die erst um 1225 geschriebene Lebensgeschichte des Guillaume de Maréchal spricht davon, dass man in diplomatischem Interesse gar nicht erst nach Rom reisen solle, wenn man nicht die Reliquien der Heiligen namens Gold und namens Silber mit sich führe, jener ehrwürdigen Märtyrer in den Augen Roms. (in: Ashbridge, S.296)

 

Spätestens seit 1229 kommt Matthäus Parisiensis in seiner Chronica maior immer wieder darauf zurück, welche Geldmengen die Päpste immer wieder seiner Ansicht nach insbesondere aus England erpressen und einsammeln, um es dann auch schon mal zweckentfremdet einzusetzen.

 

Anmerkung 5 Noch Jahrzehnte nach 1222 hat sich das Zölibat nicht durchgesetzt. 1119 legt Papst Calixt II. folgendes fest und Ordericus Vitalis bringt das in seiner Kirchengeschichte (III, 12):

Priestern, Diakonen, und Subdiakonen verbieten wir desweiteren das Zusammensein (contubernia) mit Konkubinen und Ehefrauen. Sollte noch jemand sich in dieser Situation auffinden lassen, wird er seiner Kirchenämter und seiner Benefizien enthoben. Wenn er dann seine Unreinheit (immunditia) noch nicht berichtigt hat, muss er sich von der christlichen Gemeinschaft (communio) fernhalten.

 

D.N. Hasse fasst zusammen, was Ordericus Vitalis für den November 1119 in seiner 'Historica ecclesiastica' berichtet, als die Bischöfe diese Botschaft von der Synode in Reims zurück in ihre Bistümer bringen:

"Einer von ihnen ist Erzbischof Godfried von Rouen. Er lässt die Priester in der Kirche zusammenkommen, um die Beschlüsse der Synode zu verkünden. Eine der Anordnungen betrifft die Enthaltsamkeit: Godfried verbietet den Priestern jegliches Zusammenleben mit Frauen und droht mit drastischen Worten, dass jede Zuwiderhandlung mit Exkommunikation bestraft werde. Die Priester sind entsetzt. Es gibt entrüstetes Gemurmel, man spricht leise vom Konflikt zwischen Körper und Geist, und einer der Betroffenen hebt zum offenen Widerspruch an. Godfried lässt ihn aus der Kirche führen und in ein Gefängnis werfen. Die Priester sehen wie gelähmt zu, während der Erzbischof die Kirche verlässt und seine Leibwächter zusammenruft. Diese dringen mit Stöcken und Waffen in das Gotteshaus ein und attackieren die Geistlichen. Einige fliehen, andere aber wehren sich mit dem, was sie finden können. Die Angreifer werden zurückgeschlagen und bis zum Haus des Erzbischofs getrieben. Doch Godfrieds Leute finden Unterstützung bei Handwerkern und einfachen Leuten, und der Kampf verlagert sich wieder in die Kirche. Die Wut der Angreifer richtet sich nun gegen alle, die sie im Haus oder auf dem Friedhof finden können, Beteiligte und Unbeteiligte, Alte und Junge. Die blutenden Priester fliehen zu ihren Gemeinden und Konkubinen, und der Kampf findet ein Ende. Die Nachricht von der gewaltsamen Auseinandersetzung löst Entsetzen bei den niederen Klerikern und den anständigen Bürgern der Stadt aus. Ihre Sympathie gilt den geschundenen und entehrten Priestern. Der Erzbischof hält sich in seinem Haus versteckt. Erst als wieder eine gewisse Ruhe eingetreten ist, kehrt er in die blutbesudelte Kirche zurück, um sie neu zu weihen." (In: Abaelards 'Historia Calamitatum, S. 262f)

 

Man ahnt, der mönchische Erzähler hat Mitgefühl mit den Priestern.

 

Aver nun wird es doch langsam Ernst für die Geistlichkeit. Zunächst gelten immerhin vor der Weihe ordentlich geschlossene Priesterehen noch. 1135 bringen Innozenz II. und Bernhard von Clairvaux auf einer großen Synode in Pisa einen Beschluss durch, der diese Priesterehen für ungültig erklärt. Damit setzt sich die Kirche im Sinne des Zölibats selbst über die zugleich propagierte Unauflöslichkeit der Ehe hinweg:

Um aber das Gesetz der Enthaltsamkeit (continentiae) und der von Gott gewünschten Reinheit (munditia) bei kirchlichen Personen und den geweihten Ständen zu verbreiten, verordnen wir, dass Bischöfe, Priester, Diakone, Subdiakone, Regularkanoniker und Mönche, die das heilige Gelübde (sacrum) übertreten und sich anmaßen, sich mit Frauen zu verbinden (uxores sibi copulare), sich von ihnen trennen müssen. Denn eine solche Verbindung (copulationem), so legen wir fest, ist keine Ehe (matrimonium), denn es steht fest, dass sie gegen die festgesetzte kirchliche Regel ist.

 

Nun hilft kein Jammern und kein Klagen mehr. Damit niemand denkt, dies sei nicht die höchste und letzte Instanz, wird genau dasselbe 1139 auf dem zweites Laterankonzil noch einmal festgelegt.

 

Die Chronik des Radulfus von Diceto berichtet für 1137 über das böse Schicksal der Konkubinen einiger Londoner Säkularkanoniker, als focariae bezeichnet, als Küchenmädchen (von focus, dem Herd):

Focariae quorundam canonicorum qui saeculares dicuntus, raptae sublimes, ad turrim non sine dedecore gravi pertractae sunt, et ibidem constrictae multis diebus. Quae quidem non sine ludibrio corporis (körperliche Erniedrigung), nec sine dispensio famae, nec sine numaeratione pecuniae redierunt ad propria. (in: Abaelards 'Historia.., S.280 Anm. 62) .

 

"Über die Londoner Klerikerehefrauen und -konkubinen von St. Paul's wissen wir dank einer guten Quellenlage recht viel. Mindestens 13 der 30 Pfründe wechselten am Anfang des 12. Jahrhunderts von Vater zu Sohn, wie Einträge der Art „Radulf, Sohn des Algod, Wilhelm Sohn des Radulf“ (...) im Pfründekatalog zeigen. Von Radulf beispielsweise wird in anderen Quellen berichtet, dass er eine socia, also eine Konkubine, mit Namen Mahald hatte und einen zweiten Sohn. Manche der Londoner Kleriker waren sicherlich auch verheiratet.“ (Hasse in: s.o., S.280)

 

Beobachtet wird immer deutlicher auch, dass zwischen der Zölibatsproganda und der Wirklichkeit sich neue Gräben auftun. Beobachtet und in Einzelfällen überliefert wird dabei die Neigung des zölibatären Prälaten zu Homosexualität und Päderastentum, erst wieder Ende des 20. Jahrhunderts an eine breitere Öffentlichkeit gebracht.

Da ist ein Bischof Johannes II. von Orléans 1096 unter reichlich skandalösen Umständen ins Amt gekommen, nachdem Bischof Ivo von Chartres und große Teile des Domkapitels von Orléans wegen unlauteren Lebenswandels heftig gegen Johannes opponiert haben. "Erst, nachdem er die anfänglichen Widerstände überstanden hatte, konnte er seine Position innerkirchlich konsolidieren. Johannes II. war eine lange Amtszeit beschieden: Bis 1135 ist er als Bischof von Orléans bezeugt.“ (RoblHilarius) „Von Bischof Johannes II. behauptete wiederum kein geringerer als der französische König persönlich, er sei der succubus seines Amtvorgängers Johannes I. gewesen. Im Übrigen war Johannes II. schon zur Zeit seines Kanonats in Orléans von seinen Kollegen wegen der homosexuellen Beziehungen zu seinem Vorgänger Johannes I. als „Hure Flora“ verspottet worden.“ (Robl s.o. mit Belegen) Hilarius schreibt an Hugo Primas:

In servitio domini episcopi Aurelianensis octo annos expendi, non tamen ab ipso aliquid boni, immo maximum dampnum acquisivi – Acht Jahre habe ich im Dienst für den Herrn Bischof in Orléans verschwendet, aber nichts Gutes habe ich von ihm erhalten, sondern nur höchsten Schaden...“ (RoblHilarius)

 

Bischof Ivo von Chartres prangert an, dass einer der Gespielen des Bischofs von Orléans seinen „Geliebten“ mit gesungenen Reimgedichten vergöttert hätte. Ivo berichtete empört Erzbischof Hugo von Lyon und in einem weiteren, fast gleichlautenden Schreiben sogar Papst Urban II.:

Viele Leute aus Orléans würden meine Aussage bezeugen, wenn sie nicht Verhaftung oder Vertreibung befürchten müssten. Damit ihr nicht glaubt, ich hätte mir das alles nur ausgedacht, habe ich Euch stellvertretend für viele andere ein Lied geschickt, das von einem seiner Beischläfer mit Metrik und Klang über ihn verfasst wurde. Dieses Lied trällern ständig die Burschen, die so schwul sind wie er, in unseren Städten, auf den Straßenkreuzungen und Plätzen. Aber auch er selbst hat es mit seinen Gespielen oft gesungen, oder zugehört, wenn sie es ihm vorsangen...“

(58 „Multi enim Aurelianenses ad haec quae dixi mihi darent testimonium, nisi timerent carcerem vel exilium. Et ne me ista aliquae occasione confinxisse credatis, unam cantilenam de multis metrice et musice de eo compositam ex persona concuborum suorum vobis misi, quam per urbes nostras in compitis et plateis similes illi adolescentes cantitant, quam et ipse cum eisdem concubis suis saepe cantavit et ab illis cantari audivit...“ (Siehe Briefe Ivos von Chartres an Hugo, den Erzbischof von Lyon, und an Papst Urban, hier zitiert aus Gallia Christiana Bd. 7, S. 1443-1445.)

 

Hugo „Primas“, der später Orléans verlassen muss, prangert in einem seiner Gedichte später Bischöfe, die simonistisch in ihr Amt gelangen, bewährte Mitarbeiter verstoßen oder der Päderastie frönen, mit folgenden Worten an:

Cil, ki servierant per longum spacium, / amittunt laborem atque servitium, / tristis hypocrita quem vos eligitis, / adeptus honorem non suis meritis... / et presto sit puer, filius militis, / que il deit adober pro suis meritis, / qui virgam suscitet mollibus digitis, / plus menu que moltum hurte de genitis…

Doch die, die ihren Dienst so lange treu versehen, / die müssen von dem Brot aus ihrer Arbeit gehen, / den Heuchler, den ihr Euch erwählt, mit saurem Angesicht, / erlangt dann zwar die Ehr, doch durch Verdienste nicht... / Und wenn ihn dann die Gier des geilen Sinnes plagt, / so ruft den Knaben er zu sich, des Ritters Sohn, / vergelten muss er ihm den Dienst mit hohem Lohn: / Mit weichen Fingern schafft er, dass das Glied sich regt, / noch öfter als der Bock mit seiner Rute schlägt...“ (Aus RoblHilarius)

 

Natürlich ist nicht mehr nachzuvollziehen, wieviel solcher Texte unverdiente Häme ist, Ressentiment, und schon gar nicht, wie häufig Homosexualität und Päderastie beim Klerus auftreten. Sie sind wohl nicht die Regel, sondern eine mehr oder minder häufige Abweichung davon. Aber in solchen Dingen offenbart sich zumindest in den Städten, wie aus der Widersprüchlichkeit mittelalterlichen Christentums nicht nur jene Widersprüche hervorgehen, die Kapitalismus kennzeichnen, sondern auch jene damit eng zusammenhängende Verlogenheit, mit der christliches Abendland mit der menschlichen Geschlechtlichkeit schon damals umgeht.

 

Anmerkung 6 Wie schwer es ist, ein konsequentes reguliertes Kanonikerdasein durchzusetzen, muss Norbert von Xanten erleben. Er tritt schon als Kind in das Stift St. Viktor in Xanten ein und wird dort auf einer ergiebigen Pfründe Subdiakon. Dann begleitet er Kaiser Heinrich V. auf seinem Romzug, wendet sich aber wegen des dort Erlebten der Reformpartei zu. Um 1115 hat er eine Art Bekehrungserlebnis. Er lässt sich zum Priester weihen und entsagt dem früheren Luxus. Erst wird er Eremit bei Xanten und dann Wanderprediger. Schließlich verzichtet er auf seine Pfründe. Es gelingt ihm, dem Vorwurf der Ketzerei entgegenzutreten. Er wird nun Prediger in Frankreich, erhält vom Papst die Predigterlaubnis. Wegen seiner Kirchenkritik suspekt, schenkt ihm der Bischof von Laon ein Grundstück und drängt ihn zur Niederlassung im abgelegenen Prémontré. Mit der Regel des Augustinus entsteht dort ein Chorherrenstift von Regularkanonikern. Zunächst gehört dazu auch ein Frauenkloster. Richtiger Mönch will er nicht werden, also nicht abgeschlossen von denen leben, für die er predigen möchte. Norbert kann aber seine radikalen Vorstellungen vom kommunitären Miteinander nicht durchsetzen.1126 wird er Erzbischof vom Magdeburg und vertritt dort mit aller Härte die Kirchenreform auch gegen Widerstände der Bürger dort. Langsam öffnet er sich wieder etwas dem weltlichen Luxus.

 

Um 1140 scheitert der Erzbischof von Bordeaux jahrelang damit, in seinem Domkapitel Zölibat und gemeinsames Leben durchzusetzen.

Sie hatten ihren Widerstand schon sieben Jahre lang aufrechterhalten und waren mit dem Kirchenbann belegt worden. Der Erzbischof hatte fliehen müssen (...) sie hinderten ihn mit Gewalt, zurückzukehren. (...) Das Volk hasste den Erzbischof so sehr, dass die Leute uns als seine Verbündeten mit Schmähungen überhäuften, als wir die Stadt betraten. (Gottfried von Auxerre als Begleiter von Bernhard von Clairvaux, in: Moore, S.41f)

 

Als Otto von Freising sein Kapitel 1158 reformieren möchte, scheitert er gegenüber den aristokratischen Domherrn, die keine vita communis mehr möchten (EhlersOtto, S. 148)

Mit der Teilung von Macht und Verfügung über Eigentum zwischen Bischof und Kapitel gehen die Stadtbürger offensichtlich lokal sehr unterschiedlich um, eben auch damit, dass am Ende die Gier über die Reform siegt.

 

Anmerkung 7  Die Rejudaisierung des Christentums, begonnen mit der Verbindung von Kirche und Macht in der späten Antike, erreicht ihren höchsten bildlichen Ausdruck wohl in den frühgotischen Königsgalerien an den Kathedralen Frankreichs, deren erste die Fassade von Notre Dame zu Paris seit 1220 schmückt.

Hier wird nicht nur darauf hingewiesen, dass mehr oder weniger sagenhafte antik-jüdische Könige jener Dynastie angehören, der auch Jesus entstammen soll, sondern auch auf die seit Chlodwig betonte Vorreiter- und Vorbildfunktion dieser Könige, eine völlig unevangelische und unpaulinische Vorstellung.

 

Anmerkung 8 Das zentrale Ereignis, den Besuch des leeren Grabes am Ostermorgen, führt schon in unserer Schwellenzeit zu einer frühen szenischen Darstellung im Wechselgesang zweiér Chöre, dem der Frauen am Grabe und dem der Engel, die ihnen die Auferstehung verkünden, allesamt von Klerikern dargestellt. Auf dem Weg ins 12./13. Jahrhundert werden daraus immer noch von Priestern dargestellte individuelle Figuren mit eigenen Kostümen und ersten Requisiten. Ganz langsam wird der Gesang durch gemessenes Sprechen abgelöst. Das neue Theater des lateinischen Christentums entsteht. (Werner Mezger in: Heinzle, S.210) In Zukunft werden weitere biblische Szenen hinzu kommen, die ihren Weg dann auch aus der Kirche heraus finden, bis sie am Ende zunehmend von Laien gespielt werden.

 

Anmerkung 9 Inwieweit die hohen geistlichen Herren es selbst als Betrug ansehen, was beim "Auffinden von Reliquien" geschieht, ist verständlicherweise nicht dokumentiert.

Die Kunst, die Überreste von Heiligen "aufzufinden", wird nirgendwo so beherrscht wie im zukünftigen Santiago de Compostela (siehe...). Aber auch anderswo ist man darin begabt.

 

1072 öffnet man in St.Paulin eine bis dato, wie es heißt, nicht zugängliche Krypta und entdeckt die Knochen von (sage und schreibe) 300 Märtyrern, von denen ein Teil der Thebäischen Legion angehört haben soll, und ein Teil der gleichzeitigen Trierer Oberschicht. Wie man diese identifiziert hat, wird nicht angegeben. Man hofft auf eine lukrative Wallfahrt, was aber nicht funktioniert, dafür aber kann sich die Trierer Oberschicht nun mit ebenso heiligen wie vornehmen Vorfahren schmücken.

1111 wird ein Eberhard Abt von St. Eucharius bei Trier und beginnt bald mit dem Neubau der Abteikirche. Man hat mit dem Apostel Matthias inzwischen den einzigen im Blick, dessen Überreste nicht schon lokalisiert sind. Ein ganz richtiger Apostel ist er nicht, denn der angebliche jüdische Schriftgelehrte wird nur als Ersatzmann für den abtrünnigen Judas überliefert, aber immerhin...

Man lässt suchen und findet natürlich auch Knochen, die man zunächst verheimlicht, da man ihren Raub fürchtet. 1127 findet man sie bei den Bauarbeiten erneut, und sie werden nun öffentlich - wie auch immer - als die Reliquien dieses Apostels Matthias identifiziert. Das Kloster besitzt so das einzige Apostelgrab nördlich der Alpen, also Knochen von enormer Heiligkeit, deren Ruf sich bald weit verbreitet und aus dem Kloster einen Wallfahrtsort macht. Nach und nach entstehen im Westen und Süden der deutschen Lande Matthias-Bruderschaften. Bei Gelegenheit der Wallfahrt spenden die Pilger und vermehren so den Reichtum der ohnehin reichen Abtei. Seit Anfang des 13. Jahrhunderts taucht das Kloster dann zunehmend nur noch als Matthias-Kloster auf. Um 1200 gibt es Wallfahrer aus dem Rhein-Maas-Raum, den Niederlanden und vom Oberrhein.

Nach dem Tod des immer heiligeren Simeon 1135 wird unter Erzbischof Poppo die Porta Nigra zu Trier in eine Doppelkirche umgebaut. Der Prälat und Stadtherr  macht sich planmäßig daran, daraus ein Zentrum für Wallfahrten zu organisieren.

 

1106 findet man im Norden Kölns bei einer Stadterweiterung eine große Anzahl von Skeletten. Die werden schnell mit der Legende vom Martyrium einer bretonischen Prinzessin und ihrer 11 000 jungfräulichen Begleiterinnen durch die Hände Etzels und seiner Hunnen in Verbindung gebracht, die einst in Köln stattfinden soll. Da die Verehrung dieser heiligen Jungfrauen bereits verbreitet ist, bekommen Kölner Bildschnitzer nun viel Arbeit, stellen Büsten von Gefährtinnen der Ursula her, und durch einen Deckel auf dem Kopf und einen auf der Brust kann man Knochen in feine Tuche gewickelt ins Innere befördern und erhält so eine lukrative Fernhandelsware für Kölner Kaufleute, die solch heiligen Krimskrams bis Spanien, Italien, Ungarn, England und Schweden verhökern. Da man in der betreffenden Kölner Gegend immer neue Knochen und Knöchelchen findet, zum Beispiel auf Anweisung des Norbert von Xanten, gibt es unbegrenzten Nachschub. Zudem werden Ursulathemen in der Malerei bis über Memling und Carpaccio hinaus nun üblicher.

1164 werden Reliquien der hl. drei Könige von Rainald von Dassel mehr oder weniger gestohlen und nach Köln verbracht. Kurz nach 1200 heißt es in der 'Relatio tribus magis', die Stadt würde magis proficere et fama et gloria, Massen von Pilgern von Pilgern kämen, scoti, Brittones, anglici, hispani, de italia etiam, sicilia, et utraque gallia. Um diese Zeit wird der goldgeschmiedete Drei-Königs-Schrein geschaffen. Köln ist inzwischen die Colonia sancta. 1393 wird der Rat der Stadt beim Papst ein Verbot erwirken, überhaupt Reliquien aus der Stadt zu schaffen.

 

1165 wird in Aachen Karl ("der Große") zum Heiligen gemacht. Daneben besitzt man hier unter anderem Lendentuch und Windeln Jesu. Ab 1349 werden die Reliquien alle sieben Jahre ausgestellt. 1496 sollen fast 150 000 Pilger gekommen sein.

 

Seit 1354 gibt es den siebenjährigen Rhythmus der Wallfahrt nach St. Maximin bei Trier. Zum Hl. Rock Jesu im Trierer Dom gibt es ab 1512 Wallfahrten, gekoppelt an den Siebenjahres-Rhythmus von St. Maximin. Bei der ersten sollen rund 100 000 Menschen gekommen sein. Noch 1844 bringt die Reliquie bis zu einer halben Million Pilger nach Trier.

 

Nachteile für die Masse der Bevölkerung zur Zeit der Wallfahrt sind Verteuerung der Lebensmittel, zudem gibt es Tote im Gedränge. Dafür gibt es aber Einkünfte aus dem Verkauf von Lebensmitteln, Wasser und Wein sowie für die Beherbergung. Dazu kommt der Verkauf von Devotionalien und anderen Souvenirs bei extra dafür eingerichteten Buden. Allerdings ist in den größeren Stadten die Wallfahrt nur ein (kleinerer) Faktor der Stadtentwicklung.

Rangstreitigkeiten der Bischofsstädte untereinander werden mit der Anzahl der (anwesenden) Heiligen und sonstigen Reliquien der Stadt begründet.

 

Anmerkung 10 Auch das gibt es: Hildebert von Lavardin wird zwei Jahre vor Otto von Freisings Tod geboren. Vielleicht Schüler von Berengar von Tours, schafft er es hochgebildet Ende des 11. Jahrhunderts bis zum Bischof von Le Mans und später von Tours. Als egregius versificator von Ordericus Vitalis gelobt, wird er berühmt durch seine Briefe, Lebensbeschreibungen und Gedichte. Anlässlich eines Rombesuches feiert er die antiken Reste der Stadt:

Hier bestaunen sogar die Götter die Bilder der Götter. / Und der geformten Gestalt gleichen, das wollen sie gern. / Götter mit solchem Gesicht vermocht' die Natur nicht zu bilden. / Wie von ihnen der Mensch herrliche Zeichen erschuf. (in: Neske, S.161)

 

Zwar formuliert er auch, dass die Stadt erst als christliche Metropole ihren vollen Glanz erreicht habe, aber in Form (als Distichon) und Inhalt (Bewunderung der "heidnischen" Antike) scheint sich vom christlichen Würdenträger der klassisch-vorchristlich Gebildete abgespaltet zu haben. Ähnliches gilt u.a. für Baudri von Bourgueil und Marbod von Rennes.

 

Kompartmentalisierung, also Aufspaltung der Person in einen Teil, der starken Alkoholkonsum, sexuelle Promiskuität und das Würfelspiel feiert, und einen anderen, der behauptet, zugleich auch Christ zu sein, betreiben Vaganten mit ihren Gedichten/Liedern im 12./13. Jahrhundert. In seinen Gedichten über die Hure Flora beschreibt der Archipoeta,

wie schweres Gewicht die Dirne im Liegen ertrug, oder dass sie weniger bedrückt wird, wenn man ihr einen Pelz unterlegt. Wenn du so tüchtig bist, dir Manneskraft üppig ist, / Musst starken Trunk du pflegen, willst du nicht krank dich legen. Ein Knabe muss beim Glied des Mannes Hand anlegen, um eine Erektion zu erreichen. Und dann: Beim Spiel geht's Jammern los, das Ding sei viel zu groß; / Sie ringt und schwört mit Klagen, sie könne dich nicht tragen. / Mit Seufzen und mit Schrein macht sie die Öffnung klein, / durch die ein Maultier geht, wenn sie ganz offen steht. (Langosch, S.259f, S.293)

Der Archipoeta möchte in der Schenke sterben und fasst zusammen: Was die Venus auch befiehlt, ist mir süßes Fronen, / Die in einem trägen Herz niemals könnte wohnen. (Langosch, S.296)

Das hindert ihn aber nicht daran, auch als Christ aufzutreten. Der sich entfaltende Kapitalismus trägt seine Widersprüche immer weiter in die Menschen hinein.

 

Anmerkung 11 Nach 1100 beginnen sich beieinzelnen Personen Philosophie und Theologie/Religion in ganz langsamen und vorsichtigen Schritten auseinander zu bewegen, ein Vorgang, der seinen genialen Abschluss allerdings erst in Kants 'Kritik der reinen Vernunft' erhält. Das flankiert dann jenen Unglauben, der ohne philosophische Gedankengänge nur mit Hilfe des gesunden Menschenverstandes alles Wundersame und Seltsame am römischen Christentum als Unsinn ablehnt, jenen nämlich, der in genau dieser Zeit immer dogmatischer verhärtet auftritt: Jungfrauengeburt, Transsubstantiation, Auferstehung usw. (siehe die vielen Beispiele in Dinzelbacher, Unglaube).

 

Eine weitere Gruppe vermutlich innerer religiöser Indifferenz tut sich spätestens im 12. Jahrhundert unter der reichen und mächtigen Oberschicht italienischer Städte auf, eine Entwicklung, die in Richtung der "Renaissance" des 14. bis frühen 16. Jahrhunderts führen wird. Wahrnehmbar wird sie nur in der zunehmenden Abwesenheit kirchenchristlicher Äußerungen: Die Casa dei Crescenzi in Rom, wohl aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, ist zum Glück noch erhalten, und stolz erklärt ihr Auftraggeber auf der Fassade, er wolle den decor des alten Rom renovare. Christliche Anklänge fehlen völlig (Wickham(2), S.237).

 

Die Fortuna, einst eine römische Göttin, wird nun eine von den Göttern und auch dem christlichen Gott abgelöste Instanz. Symbolisiert in dem Rad, welches Glück und Unglück stetig wechselt, taucht es in Kirchen in Fresken auf und in Hochreliefs. Zwar soll es wie das bald auftauchende Memento-Mori-Motiv vor den Wechselfällen des Lebens mahnen wie bei Otto von Freising, aber bei Chrétien de Troyes und in der volkstümlichen Vagantenlyrik ist es bereits ganz von religiösen Zusammenhängen gelöst (o fortuna, velut luna...). Ein christlicher Gott trennt sich von Alltagswahrnehmung.

 

Während religiöses Mitläufertum der vielen je nach Sichtweise Bequemlichkeit oder Lebensklugheit ist, ist Ungläubigkeit damals wenigstens mit gewissen Denkvorgängen verbunden. Wieviel Unglauben es gibt, ist nur zu erahnen, denn kluge Ungläubige halten meist darüber öffentlich klugerweise ihren Mund. Aber dass es wohl mehr davon gibt, kann das Reden vom "christlichen Mittelalter" etwas relativieren.

 

Bei Keller (Begrenzung S.197ff) ist beispielsweise folgende Geschichte zusammengefasst. Ein holsteinischer Bauer kämpft 1189 für Heinrich den Löwen. Er wird schwer verletzt, seine Seele verlässt ihn am 20. Dezember und kehrte erst am 24. zurück. Darauf kann er eine phantastische Geschichte von einem märchenhaft ausgemalten Jüngsten Gericht erzählen, in dem sechs besonders Sündhafte schlimmste Höllenqualen durchlaufen müssen. Den sechs Schwerbelasteten hält der Engel vor:

Ihr habt das Wort des Herrn von euren Priestern vielfach gehört , doch ihr wolltet es nicht begreifen und wolltet nicht Gutes tun; Ihr habt gehört, aber nicht gehandelt. Jammernd antworten sie: Was die Priester an Zeugnissen vortrugen, kam uns unglaubwürdig vor, denn sie sprachen von unsichtbaren Dingen. Wir erfreuten uns aber nur an sichtbaren und kamen gar nicht auf den Gedanken wie Hoffnung auf ewige Güter, noch hatten wir Angst, in Verderbnis zu geraten. Ihr Jammern wird ihnen aber nicht helfen.

 

Der Trouvère und dann Zisterzienser Helinand von Froidmont schreibt Ende des 12. Jahrhunderts von den durch Antikenrezeption und Gelehrsamkeit verdorbenen Ungläubigen, welche sagen:

Genießen wir jetzt das Gute, das uns zufällt. / Danach komme, was da wolle. / Der Tod ist das Ende des Kampfes, / und Seele und Leib werden zu nichts. (in: Dinzelbacher, S.91)

 

Um 1200, so fasst Dinzelbacher zusammen, erklärt Alanus de Insulis, dass falsche Christen nicht an die Auferstehung glaubten, Epikur und Lukrez zitierten und sich nur auf das irdische Leben konzentrierten.

Der Geistliche Giraldus Cambrensis erwähnt viele Geistliche, die insgeheim die Mysterien/Sakramente der Kirche ablehnten. Sie würden sagen:

Das ist doch alles Täuschung, was wir da tun. Unsere Vorfahren haben sich das ja schlau ausgedacht, um den Menschen Angst einzujagen und sie von vorwitzigen Anmaßungen zurückzuhalten. (in: Dinzelbacher, S.91)

 

Zu 1237, als der Kaiser Mailand belagert, schreibt Matthäus Parisiensis in seiner Chronica maiora:

Die Bürger (...) hingen (...) in den Kirchen den Gekreuzigten an den Füßen auf, und aßen Fleisch am Freitag und in der Fastenzeit, und Viele in ganz Italien verfielen in denselben Abgrund der Verzweiflung, fluchten und lästerten, und erfüllten ohne alle Scheu die Kirchen mit Schmutz, der gar nicht zu nennen ist; die Altäre vor allem besudelten sie und vertrieben die Geistlichen.

Woher er das hat, schreibt er nicht, aber zumindest scheint er das alles für glaubwürdig zu halten.

 

Christlich ist das Mittelalter offiziell, aber darunter gibt es sicher viel eher gleichgültiges Mitläufertum und eine gehörige Portion Unglauben. Der aber kann, laut ausgesprochen, schnell lebensgefährlich werden.

 

Anmerkung 12 Klöster, mögen sie sich auch noch so der (individuellen) Armut verpflichten, sind doch auch wirtschaftende Einheiten, bislang in die feudalen Strukturen von Grundherrschaft eingebettet. Dabei halten einige weiterhin einen gewissen Reichtum.

Andererseits nähern sich manche traditionelle Benediktinerklöster dem Ruin. Das Kloster Stablo leidet laut einer königlichen Urkunde von 1140 unter dem

Schaden, dass die Ministerialen seiner Höfe ihre Ämter, das ist das Richter- und das Meieramt, als Lehen und nach Erbrecht besitzen wollten.  Daher komme es, dass die Anordnungen des Abtes und der Pröbste unwirksam blieben und die Hörigen des Klosters in Not gerieten. Das soll nun geändert werden und die Ämter dürfen auch nicht mehr vererbt werden. Entsprechend soll der Vogt sich nicht mehr Rechte des Abtes anmaßen. Und zudem werden die Grenzen der Bannmeile bestätigt, in denen niemand außer dem Abt irgendwelche Machtbefugnis, Gerechtsame oder Gerichtsbarkeit haben darf. (in: Franz, S.191)

 

Um die Mitte des Jahrhunderts berichtet der Abt von Fulda:

(...) wenn ein Laie einige Zeit einen Meierhof des Klosters in der Hand gehabt hatte, dann behielt er die besten Hufen für sich und vererbte sie seinen Söhnen nach dem Lehnrecht.  (...) Die Großen der einzelnen Landschaften nahmen sich von den in ihrem Bereich liegenden Klostergütern, soviel ihnen gut schien. (...) Die Ärmeren aber legten Neubrüche und Siedlungen in den Wäldern und Forsten, die dem hl. Bonifaz gehörten, an. Es gelingt dem Abt, von den Meierhöfen ein, zwei, drei oder mehr Hufen zurück zu gewinnen. (in: Franz, S.216)

 

Während es den einen benediktinischen Klöstern bereits schlecht geht, können andere noch aus dem vollen schöpfen und nähern sich manchmal dem Bild des fetten, selbstgefälligen Mönches der nächsten Jahrhunderte. Mit ihnen entsteht dann die Vorstellung von Kukanien, dem Schlaraffenland der Vaganten und Satiriker, in dem Mönche in überfließendem Wohlstand leben. Von dort wird es dann in die märchenhafte Volksliteratur in zunächst mündlicher Form eingehen.

 

Ein Robert (de Molesme) wird 1044 Mönch des Klosters Moûtier-la-Celle in Troyes, 1053 Prior, und 1068 zum Abt von Saint-Michel-de-Tonnerre, zwar cluniaszensisch, aber ihm offenbar nicht streng genug. Er kehrt nach Troyes zurück, wird dann Prior von Saint-Ayoul in Provins. Um 1074 laden ihn Eremiten in einem Wald in der Nähe ein, ihre Führung zu übernehmen und er gründet mit päpstlicher Erlaubnis mit ihnen die Abtei Molesme. 

Er soll laut Ordericus Vitalis um 1094 seinen Mönchen erklärt haben, sie befolgten die Regel Benedikts nicht mehr, seien auf Reichtum aus und ein bequemes Leben. Die weisen das empört von sich. Robert zieht sich in ein kleines Kloster in der Nähe zurück, muss aber auf päpstliche Anweisung in seine Abteil zurückkehren. 1098 zieht er mit mehreren anderen aus dem Kloster aus und gründet in einer "Einöde" das Kloster Citeaux. Dem Regelbruch des Auszugs wird das Argument entgegengestellt, dass der Grund Regeleinhaltung sei (rectitudo regulae im 'Exordium parvum'). Erstaunlicherweise unterstützt der päpstliche Legat und Erzbischof von Lyon nun das Vorhaben. Herzog Odo I. von Burgund schenkt ihnen nicht nur das Land, sondern finanziert auch den Bau der Abtei.

Robert muss nach einem Jahr wieder zurück nach Molesme, und in Citeaux ist ein Mönch Alberich Abt und dann ab 1109 der Engländer Stephen Harding.

 

Die Gemeinschaft möchte nicht mehr von den bislang üblichen Einkommensquellen leben, der Arbeit der abhängigen Bauern und den Abgaben, die sie leisten, nicht einmal vom Zehnten der eigenen Kirchen. Vielmehr wollen sie ihren Unterhalt aus der Arbeit auf ihrem eigenen Grund und Boden gewinnen. Schenkungen nehmen sie gerne an, bewirtschaften sie aber dann nur direkt.

Und direkte geistliche Gegenleistungen, wie sie für Cluniaszenser elementar wichtig sind, lehnen sie wie die Franziskaner bald ab, halten das aber dann nicht durch. Von dem englischen Heinrich II. ist überliefert, dass er als Buße für die Ermordung von Erzbischof Thomas von Canterbury (1179) nicht nur an Grandmontenser und Fontevrault (und andere) viel Geld stiftete, sondern auch 2.000 Pfund Silbergeld an Zisterzienser.  

 

In der von Harding entworfenen  'Carta Caritatis Prior' von vor 1119 heißt es:

In diesem Dekret bestimmten die genannten Brüder und legten für ihre Nachfahren fest, um einem künftigen Bruch des gegenseitigen Friedens vorzubeugen, durch welchen Vertrag, auf welche Art und Weise, ja vielmehr mit welcher Liebe ihre Mönche, dem Leibe nach auf Abteien in verschiedenen Weltgegenden verstreut, dem Geiste nach unzertrennbar miteinander vereint bleiben sollten. Diesem Dekret wollten sie den Namen Carta Caritatis geben, denn es schließt jede Belastung durch Abgaben aus und hat so allein die Liebe (caritas) und das Wohl der Seelen (animae utilitas) in göttlichen und menschlichen Dingen zum Ziel. (in Zisterzienser, S.29f)

 

Im selben Text wird die radikale Vereinheitlich des Alltags in allen Klöstern festgelegt, nämlich dass:

die Bräuche, ihr Gesang und alle für die Gebetszeiten bei Tag und Nacht und für die Messe notwendigen Bücher, mit denen des Neuklosters übereinstimmen, damit in unseren Handlungen keine Uneinigkeit herrscht; vielmehr wollen wir in der einen Liebe, unter der einen Regel und nach den gleichen Bräuchen leben. (s.o., S.92)  

 

Zudem heißt es auch:

Die Mönche unseres Ordens müssen von ihrer Hände Arbeit, Ackerbau und Viehzucht leben. Daher dürfen wir zum eigenen Gebrauch besitzen: Gewässer, Wälder, Weinberge, Wiesen, Äcker, abseits von Siedlungen der Weltleute, sowie Tiere, ausgenommen solche, die mehr aus Kuriosität und Eitelkeit als des Nutzens wegen gehalten werden, wie Kraniche, Hirsche und dergleichen. Zur Bewirtschaftung können wir nahe oder ferne beim Kloster Höfe haben, die von Konversen beaufsichtigt und verwaltet werden. Den Besitz von Kirchen, Altären, Begräbnissen, Zehnten aus fremder Arbeit und Nahrung, Dörfer, Hörige, Bezüge von Ländereien, Backhäusern, Mühlen und ähnliches, was dem lauteren Mönchsberuf entgegenstrebt, verwehrt unser Name und die Verfassung des Ordens. (so in: DMeier, S.121)

 

Aus dem Kapitel von Citeaux entwickelt sich mit den Neugründungen das Generalkapitel, in dem die Äbte aller Klöster gemeinschaftlich alle Angelegenheiten des so gegründeten ersten großen Ordens besprechen und entscheiden.

Die immer neuen Tochter- und Tochterstochter-Gründungen der Zisterzienser werden dadurch zusammengehalten, dass alle dieselben Gewohnheiten wie dort streng einhalten, was von den Äbten der jeweils übergeordneten Klöster regelmäßig überprüft werden soll. Einmal im Jahr sollen sich alle Äbte in einem Generalkapitel treffen, welches Äbte bei Verfehlungen auch absetzen kann. Ein wenig ist das Ganze wie eine große Firma organisiert. Die Autonomie des Klosters im Sinne der Benediktregel ist soweit abgeschafft, anbdererseits sollen sich die Klöster ihren eigenen Abt selbst wählen.

Ein Triumph für den Orden wird dann, als mit Eugen III (1145-53) ein Zisterzienser Papst wird. Am Ende der Stauferzeit ist die Zahl ihrer Klöster bereits auf 647 angestiegen, womit sie fast schon ihre Höchstzahl erreicht haben.

 

Visitationen sollen über die Einhaltung der Ordensregel wachen. Aber in der Anfangszeit stagniert die Ausbreitung der "Zisterzienser" etwas, bis sie von Bernhards charismatischem Auftreten und seinen Texten Schubkraft erhält. 

 

1112 tritt Bernhard mit sechs seiner Brüder, einem Onkel und über zwanzig anderen jungen Männern in Citeaux ein. Im 'Exordium Magnum' heißt es:

Denn Gott in seiner Gnade sandte der Gemeinschaft zu ein und derselben Zeit so viele gebildete und vornehme Kleriker und ebenso Laien, die in der Welt mächtig und angesehen waren, dass dreißig gleichzeitig mit Eifer ins Noviziat traten. (in Zisterzienser, S.32)

Die adelige Mitgliedschaft wird überwiegend bleiben und vor allem auch in den höheren Ämtern dominieren.

Bernhard befleißigt sich einer so strengen Askese mit unzureichender Ernährung, das er immer wieder gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet.

 

Nachdem Harding 1113 das Tochterkloster La-Ferté-sur-Grosne und 1114 Pontigny, folgen 1115 Morimond und clara vallis, Clairvaux, nach dem Bernhard dann benannt wird, da Harding ihn dort zum Abt bestimmt, was er bis 1153 bleibt. Die Frühzeit des Zisterziensertums wird bald von seinem Auftreten und seinen Texten beherrscht. Zu Lebzeiten gründet er alleine von Clairvaux aus 68 Tochterklöster, die zu den 345 übrigen Zisterzen hinzukommen. (Gleba, S.132) 

Für den deutschen Raum wird Kamp am Niederrhein ab 1123 besonders wichtig, da von dort Dutzende weitere Töchter entstehen. Dem Klosterverband von Citeaux wird wie schon vorher Cluny die Exemption vom Papst gewährt, also die direkte Unterstellung unter ihn, eine weitere Zunahme päpstlicher Macht zuungunsten der Bischöfe.

 

Dass die frühen Zisterzienser Wert auf adeligen Rang und eine gewisse Belesenheit legen, belegt für die Folgezeit Ordericus Vitalis: Viele edle Krieger und tiefsinnige Philosophen (nobiles athletae et profundi sophistae) strömten zu ihnen wegen der einzigartigen Neuheit ihres Lebens. Bildung wird aber bei den Zisterziensern eher auf das Lesen geistlicher Texte zurückgefahren, was für ihre Bibliotheken einen geringeren thematischen Umfang bedeutet. Sapientia wird über scientia gestellt, was die Bettelorden hundert Jahre später deutlich ändern werden.

 

In seiner 'Apologia ad Gullelmum abbatem' wendet er sich um 1125 an Wilhelm von Thierry gegen cluniaszensische Gewohnheiten.

Da ist von gewaltigen Fischmengen die Rede, da werden vier oder fünf Gänge verschlungen. (20) Wenn aber die Adern vom hineingeschütteten Wein voll sind, und der Kopf ihnen schwankt, stehen sie dann nicht vom Tisch auf nur um zu schlafen?

Der ganze Kirchenschmuck wird abgetan, der bislang bei Benediktinern eher zum Glauben anregen soll:

Was will aber in den Klöstern, vor den Augen der lesenden Mönche, jene lächerliche Ungeheuerlichkeit, jene seltsam unschöne Schönheit und schöne Unschönheit? Was wollen die unreinen Affen, die wilden Löwen, die missgestalteten Kentauren, die Halbmenschen, die fleckigen Tiger, die kämpfenden Soldaten, die hornblasenden Jäger? Du kannst viele Körper mit einem einzigen Kopf und auch einen Körper mit vielen Köpfen sehen. Ein Vierfüßler hat einen Schlangenschwanz, ein Fisch den Kopf eines Vierfüßlers. Ein Tier ist vorne ein Pferd, hinten aber eine Ziege, und ein Tier mit Hörnern hat wiederum die hintere Körperhälfte eines Pferdes. Die Vielfalt der verschiedenen Formen ist so reich und so seltsam, dass es angenehmer dünkt, in den Marmorsteinen als in den Büchern zu lesen und man den Tag lieber damit verbringt, alle diese Einzelheiten zu bewundern als über Gottes Gebiot nachzudenken. (in: Gleba, S.130)

 

Gold, Silber, Edelsteine, Elfenbein: Mit dem Aufstieg des Christentums, nun kirchlich und staatlich institutionalisiert seit Kaiser Konstantin, lassen sich Pracht bzw. Luxusdarbietung, Reichtum und Macht nicht mehr von einander und was die Kirchen betrifft, auch oft nicht mehr von Religiosität und Frömmigkeit trennen. Insofern unterscheidet sich Kirche auch nicht von weltlicher Macht.

 

Die wesentliche Kritik daran blieb implizit, in einem sich davon zur Gänze lösenden Leben. Das ändert sich nur langsam im Prozess des Aufstieges der Städte und mit den Frühformen von Kapitalismus. Ein früher Vertreter einer Auseinandersetzung, die (Waren)Ästhetisches immerhin streift, wenn auch nur unter religiösen Kriterien, ist Bernhard von Clairvaux mit seiner 'Apologia', in der zisterziensisches Gedankengut streitbar gegen das der Klöster unter der Aufsicht von Cluny antritt. Unter der Überschrift 'Über Gemälde und Skulpturen, Gold und Silber in den Klöstern' heißt es, um zunächst auf das Grundsätzliche einzugehen, über Kirchen und Kirchenschmuck:

Ich will jetzt zu größeren Mißständen kommen, die aber deswegen als geringer erscheinen, weil sie gang und gebe sind. Ich übergehe die grenzenlose Höhe der Bethäuser, ihre übermäßige Länge und unnötige Breite, den kostspieligen Glanz und die bis ins kleinste ausgearbeiteten Abbildungen. Dies alles zieht den Blick des Betenden auf sich und hindert die Andacht.

 

Soweit haben wir es mit der schon oben erwähnten Konkurrenz von Kirchen in Größe und Zierrat zu tun. Im weiteren geht es um die Unterscheidung von Mönchskirchen und Kirchen für das Volk:

Freilich, Bischofe gehen von einer anderen Voraussetzung aus als Mönche. Wir wissen ja, dass jene den Weisen wie den Dummen verpflichtet sind, und dass sie darum die Andacht des fleischlich gesinnten Volkes mit augenfälligem Schmuck wecken, denn mit geistigem können sie es nicht. Wir haben uns aber schon vom Volk zurückgezogen, wir haben für Christus alles Kostbare und Blendende der Welt verlassen, wir haben, um Christus zu gewinnen, alles für Unrat gehalten, was schön glänzt, was durch Wohllaut schmeichelt, was lieblich duftet, süß schmeckt und sich angenehm berühren lässt, kurz, alle Ergötzlichkeiten des Körpers.

 

Das Ästhetische wird hier detailliert als das den Sinnen Angenehme und darum dem ernsthaften Christen Bedrohliche beschrieben. Dass Zisterzienserkirchen der neuen gotischen Mode, also dem gerade modern werdenden Stil entsprechend gebaut werden, unterschlägt er, denn sie sollen zugleich völlig schmucklos sein, und nur das zählt für ihn.

Wie widersprüchlich das alles für die Kirche ansonsten bleibt, erweist sich sowohl daran, dass die Kirchen immer prachtvoller ausgeschmückt werden, wie auch daran, wie Kardinal Lotario de Segni, des späteren Papstes Innozenz III. um 1195 im zweiten Teil seiner Schrift 'De miseria humanae conditionis' allen schmückenden Luxus niedermacht:

Was gibt es Eitleres, als den Tisch zu schmücken mit verzierten Tüchern und Messern mit Elfenbeingriffen, mit goldenen Kannen, silbernen Schalen, mit Kelchen und Gläsern, Weinkrügen und Schüsseln, Suppentellern und Löffeln, mit Gabeln und Salzfäßchen, mit Terrinen und Ölgefäßen, mit Dosen und Fächern. Und wahrlich, es steht geschrieben: >Bei seinem Tod wird der Mensch nichts von alledem mit sich nehmen, und sein Ruhm wird nicht mit ihm hinabsteigen<. (in: Spieß2, S.89)

 

Dies Vanitas-Thema mit seiner Verbindung mit dem Memento Mori wird bis tief ins Barockzeitalter hinein populär bleiben, ohne aber sonderlichen Einfluss auf die Praxis der meisten Menschen zu haben: Die Dichotomisierung des Bewusstseins wird vorläufig zumindest ein christliches Spezifikum bleiben.

Der Papst übrigens dieses Textes wird nach seinem Tode seines prunkvollen Leichengewandes wortwörtlich beraubt werden.

 

Zur Frage der Ästhetik gilt für weltliche wie geistliche und manche monastische Herren weiterhin: Schönheit hat etwas mit dem sinnlichen wie dem Marktwert der Materialien zu tun. Für den Mönch und späteren Abt Lampert von Hersfeld war Reichtum auch für Kirche und Kloster wesentliche Anzeige des Erfolges.   Die Identifizierung von ästhetischem Wert und Marktwert wird eine nicht unwesentliche Voraussetzung für Kapitalismus sein.

 

Wie sehr religiös motivierte kritische Ästhetik und Kapitalismuskritik bei Bernhard mehr oder weniger unbewusst zusammengehen, kann man dann folgender Passage entnehmen:

Das ist die Kunst, durch die Geld ausgesät wird, damit es sich vervielfache. Man gibt es aus, damit es sich vermehre, und die Verschwendung bringt noch mehr Reichtum. Eben durch den Anblick dieser aufwendigen, aber Bewunderung erregenden Eitelkeiten werden die Menschen mehr zum Geben als zum Beten gedrängt. So wird Reichtum durch Reichtum abgeschöpft, so zieht Geld Geld an, weil - ich weiß nicht, wie es kommt - dort großzügiger gespendet wird, wo man größeren Reichtum bemerkt. Die Augen weiden sich an den mit Gold bedeckten Reliquien, und schon öffnet sich der Geldbeutel.

(Tali quadam arte spargitur aes, ut multiplicetur. Expenditur ut augeatur, et effusio copiam parit. Ipso quippe visu sumptuosarum, sed mirandarum vanitatum, accenduntur homines magis ad offerendum quam ad orandum. Sic opes opibus hauriuntur, sic pecunia pecuniam trahit: quia nescio quo pacto, ubi amplius divitiarum cernitur, ibi offertur libentius. Auro tectis reliquiis saginantur oculi, et loculi aperiuntur. Ostenditur pulcherrima forma sancti vel sanctae alicujus, et eo creditur sanctior, quo coloratior. Currunt homines ad osculandum, invitantur ad donandum; et magis mirantur pulchra, quam venerantur sacra. Ponuntur dehinc in ecclesia gemmatae, non coronae, sed rotae, circumseptae lampadibus, sed non minus fulgentes insertis lapidibus. Cernimus et pro candelabris arbores quasdam erectas, multo aeris pondere, miro artificis opere fabricatas, nec magis coruscantes superpositis lucernis quam suis gemmis. Quid, putas, in his omnibus quaeritur? poenitentium compunctio, an intuentium admiratio? O vanitas vanitatum, sed non vanior quam insanior! Fulget ecclesia in parietibus, et in pauperibus eget. Suos lapides induit auro, et suos filios nudos deserit. De sumptibus egenorum servitur oculis divitum. Inveniunt curiosi quo delectentur, et non inveniunt miseri quo sustententur.)

(http://www.binetti.ru/bernardus/14.shtml – caput 12, 28. Das hier noch angefügte Original mit den bei so viel kirchlicher Prächtigkeit zu kurz kommenden Armen zeigt das rhetorisch-propagandistische Element Bernhards).

 

Diese doch recht deutlich am evangelischen Jesus orientierte Kritik an Kirche und am traditionellen benediktinischen Kloster geht aber längst am Hauptstrom der Entwicklung vorbei.

 

Innerlichkeit als Abschließung von der äußeren Sinnenwelt formuliert Bernhard so:

Schließe die Fenster, verriegle die Zugänge, verstopfe sorgfältig die Löcher! So wirst du, wenn kein neuer hinzukommt, den alten Schmutz wegputzen können. (Ad clericos de conversione).

Die Augenlust wird zum Feind des Glaubens. Bernhard selbst hält sich ungefähr seit 1130 so wenig mehr an die stabilitas loci wie schon zuvor die Äbte von Cluny. Vielmehr reist er viel herum, vertritt dabei das Ideal der Rittermönche wie auch den zweiten Kreuzzug, tritt gegen Abaelard auf und agiert viel "in der Welt".

 

Überhaupt wird die Idee immer deutlicher, Frömmigkeit durch Verinnerlichung mit Einfachheit des Äußeren zu verbinden. Der fehlende Kirchturm soll von der üblichen Adelskirche lösen, und die Funktionalität der Klosteranlage soll die Gleichförmigkeit des Klosterlebens mehr verdeutlichen als ein allen gemeinsamer Bauplan. Bauliche Besonderheit werden die getrennten Chöre für Mönche und Konversen, ergänzt durch getrennte Kircheneingänge, wobei allerdings beide beim Stundengebet und den Messen gleichzeitig anwesend sind. In Norddeutschland gehören die Zisterzienser zu den ersten, die Backsteinbauten errichten, also mit seriell produziertem (Kunst)Stein arbeiten.

Die Wände der Kirche sollen kahl bleiben, ohne Fresken und Tafelmalerei, (fast) ohne Skulpturen bis auf Marienstatuen. Bunte Glasfenster und die skulptierten bildhaften Kapitelle sollen fehlen wie auch kostbare Fußböden. Während spätere Abbildungen von der Bautätigkeit der Mönche künden, übernehmen sie doch nur eine grobe Bauleitung und lassen Spezialisten arbeiten.

Liturgische Geräte sollen fast alle nicht silbern oder golden sein, wie die 'Capitula' vorschreibt. Im Laufe der Jahrzehnte lässt sich das allerdings immer weniger durchhalten, insbesondere wenn solch kostbar-prächtiges Gerät als Schenkung dazukommt. Dasselbe gilt für Handschriften, die zunächst nicht illuminiert sein dürfen, aber dies dann doch bald des öfteren sind.

Das alles wird auf die Dauer nicht durchgehalten, wie schon Caesarius von Heisterbach belegt. Dabei muss man überhaupt sehen, dass Bernhard zwar sehr einflussreich ist, aber doch eher eine Extremposition im Orden vertritt.

  

Die erheblich ausgeweitete cluniaszensische Liturgie wird textlich eingeschränkt, um dem einzelnen Text des Stundengebetes wieder mehr Bedeutung zu geben. Tonumfang und Verzierungen beim Gesang werden zurückgenommen wie auch die einsetzende Mehrstimmigkeit mit ihrer Kopfstimme.

Die memoria der Stiftertoten und die dazugehörigen Armenspeisungen werden gegenüber den Cluniaszensern dadurch massiv eingeschränkt, dass das individuelle Totengedenken durch pauschale Gebete an wenigen Tagen ersetzt wird.  Stifterbilder und Wappen werden zunächst untersagt, was sich gegenüber ihnen nicht durchhalten lässt. Tatsächlich werden dann Zisterzienserklöster wie Fürstenfeld für die Wittelsbacher und Doberan später für die Herzöge von Mecklenburg eine Art fürstliche Hausklöster mit der Begräbnisstätte für die Familie. Zudem wird immer mehr dem Wunsch von Laien nachgegeben, auf den Friedhöfen der Klöster begraben zu werden. 

Das Essen wird vereinfacht, Weißbrot wird in der Regel bald verboten, ebenso wie Fett und Fleisch, außer für Kranke, Konversen und Lohnarbeiter. Teure Gewürze wie Pfeffer sind ebenfalls untersagt. Das Schweigegebot wird strikter eingehalten.

 

Die Kritik blieb bald nicht aus. Ordericus Vitalis schreibt:

Viele edle Gottesstreiter und Sucher tieferer Wahrheit laufen ihnen zu wegen der Neuheit ihres ausgefallenen Auftretens (…) Unter die guten Menschen mischen sich aber auch die Heuchler, die (…) die Menschen betrügen und dem Volk ein gewaltiges Theater vorspielen. (in EhlersOtto, S. 96)

 

Ein Muster an Idealisierung klösterlichen Lebens insbesondere der Zisterzienser bietet der recht gelehrte Zisterzienser Otto Bischof von Freising in seiner Chronik, der  'Geschichte der zwei Welten':

Abgesehen von den Klerikern und Laien, die züchtig, fromm und gerecht (sobrie, pie et iuste) ihr Eigentum nicht als ihr Eigentum betrachten, sondern mildtätig für die Bedürfnisse der Brüder sorgen, gibt es verschiedene Vereinigungen der Heiligen (agmina sanctorum), die gemäß dem Gebot des Evangeliums auf ihr eigenes Begehren (desiderium), ihr Eigentum und ihre Verwandtschaft Verzicht leisten, zur Abtötung ihres Fleisches (per mortificationem carnis) für immer das Kreuz tragen und voll Begehren nach dem Himmelreich Christus folgen. Einige von ihnen wohnen in Städten, Burgsiedlungen und kleineren Orten oder auf dem Lande, und vermitteln ihren Nächsten durch das Wort und das Beispiel die rechte Lebensweise. Andere wenden sich zwar nicht ganz gegen das Zusammensein der Menschen, sind aber mehr auf ihre Seelenruhe bedacht, meiden den Umgang mit ihnen und ziehen sich in die Verborgenheit von Wäldern und anderen abgelegenen Gebieten zurück, und dienen alleine Gott.

... Sie alle führen schon auf Erden ein Leben in himmlischer engelhafter Reinheit  und Heiligkeit des Gewissens.

sie legen sich gleichzeitig schlafen, sie stehen gemeinsam zum Gebet auf, sie nehmen gemeinsam in einem Raum ihre Mahlzeiten ein, und Tag und Nacht beschäftigen sie sich mit Beten, Lesen und Arbeiten mit so unermüdlichem Fleiß......Sie enthalten sich ferner alle des Fleischgenusses...

...Alle Werkstätten der verschiedenen Handwerker (opificum), der Bäcker, Schmiede, Weber und der anderen, liegen nämlich im Inneren, damit keiner von ihnen Anlass hat hinauszugehen...

...Kommt aber eine Frau die einer Zusprache bedarf oder eines anderen Anliegens, so muss sie draußen verbleiben, und der Abt des Klosters oder einer der Brüder spricht mit ihr, nicht drinnen und nicht alleine, sondern unter freiem Himmel an offener Stelle, die nur durch ein einfaches Dach gegen Regen geschützt ist.

...häufig werden sie beim Abschied aus dem Leben durch die Erscheinung eines Engels oder des Herrn getröstet. Sie heilen Kranke, treiben Dämonen aus, und manchmal bekommen sie, soweit das in diesem Leben möglich ist, durch Kontemplation einen Vorgeschmack von der Süße des himmlischen Vaterlandes (patriae), und bringen deshalb, wiewohl von Arbeit und Vigilien erschöpft, durch Fasten geschwächt … fast die ganze Nacht mit dem Gesang von Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern zu. (VII, 35, S.560f))

 

So wie Otto hier das Leben der Zisterzienster idealisiert, so hört man auch Gegenteiliges. Walter Map zum Beispiel spottet schon gegen Ende des 12. Jahrhunderts über ihre Geldgier (avaritia). (Zur Verbindung von Zisterziensern und kapitalistichem Markt siehe: Gewerbe 2)

 

Eine Besonderheit zisterziensischer Entwicklung wird der in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts "explosionsartig ansteigende Aufstieg" (P.Johanek) von Frauenklöstern, die nun schneller wachsen als es jemals zuvor bei den Männerklöstern der Fall war.

Im weiteren Verlauf dieses Jahrhunderts nimmt aber die Bedeutung der weißen Mönchen in vielen Gegenden Europas ab, was nicht zuletzt auch durch das Aufkommen der neuen und nunmehr populäreren Bettelorden verursacht wird. Es gibt darum immer weniger Schenkungen an sie.