Intellekt 3: 16.JAHRHUNDERT BIS 1650 (Materialsammlung)

 

 

Eine Zeitenwende?

Schulen

Humanisten (Thomas Morus / Erasmus von Rotterdam  / Kopernikus / Giordano Bruno /  Galilei / Montaigne / Agricola / Adam Riese)

William Shakespeare

 

 

 

Eine Zeitenwende?

 

Ein Aspekt, den Protestantismus und Katholizismus via Renaissance gemein haben, wird von Schwanitz folgendermaßen in unnachahmlicher Kürze beschrieben:

In traditionellen Gesellschaften sind Kommunikation und Menschheit nicht kongruent. Die ganze Natur ist soziomorph.Und so gehören zur Gesellschaft auch Bäume, Totemtiere, Verstorbene und Geister. Zu diesem Typ gehört auch die Gesellschaft des Mittelalters. In ihr leben die Menschen in Gemeinschaft mit Dämonen, Heiligen, Engeln, Teufeln, Quellen, Reliquien und natürlich mit Gott. Der Protestantismus markiert eine kulturrevolutionäre Schwelle. Sein eifersüchtiger Gott absorbiert all diese Beziehungen, monopolisiert sie und dirigiert die soziomorphen Begriffe der Kommunikation wie Liebe, Strafe, Wort, Vater, Schuld, Sünde, Erlösung etc. alle auf sich selbst. Damit entsozialisiert er die Welt, zerstört den Primat der Sozialdimension im Erleben und bereitet die Freigabe der Sachdimension und der Dimension der Zeit vor. Gesellschaft wird nun mit Menschheit gleichgesetzt. Alle andere Kommunikation wird zum Götzendienst und Aberglauben degradiert. Mit einer einzigen Ausnahme: das ist die Kommunikation mit Gott.(...) Zugleich wird die Welt entzaubert. Wenn nur noch Menschen kommunizieren und nicht mehr Bäche, Bäume, Tiere und Geister, muß eine Sonderform für Rückverzauberung gefunden werden. Das ist dann die Literatur bzw.die Kunst. Sie emanzipiert sich aus den Diensten der Religion und wird eine Spezialistin für die Verzauberung aus eigenem Recht. Dazu greift sie auf die klassischen Vorbilder und die klassische Mythologie zurück. So sehen wir zugleich die Entzauberung unter der strengen Zuchtrute des Protestantismus und die Wiederverzauberung durch die Kunst der Renaissance. Es ist, als ob das Wirken des Paulus in Ephesus wieder eingesetzt hätte. Sein Monotheismus, der den Bildhauern der Götterstatuen das Brot entzieht, wird quittiert durch den Protestschrei ,,Groß ist die Diana von Ephesus”. Und diese Wiederverzauberung tritt in den Dienst einer neuen Funktion: der Legitimation und Inszenierung jener anderen Erbin der Religion, der absoluten Monarchie und des höflschen Adels. Die Entdeckung der Politik bei Machiavelli und Thomas More entspricht der humanistischen Konvergenz von Sozialem und Menschlichem. Die Motive des menschlichen Verhaltens zu untersuchen und die Regeln der menschlichen Kommunikation wird erst dann sinnvoll, wenn nicht ständig Gespenster, Tiere und Tote dazwischenreden. Erst später wird Shakespeare zeigen, was passiert, wenn sie es doch tun. (Schwanitz, S.21/22)

 

Das ist eine schöne Zusammenfassung von dem, was bei kleinen Teilen einer kleinen Oberschicht und bei mehr und mehr Belesenen als Folge von Kapitalismus geschieht. Auf die allermeisten Menschen trifft das viel langsamer und sehr viel bescheidener zu. Für sie gibt es keine Zeitenwende. Überall aber mischt sich Glauben weiter mit Wissen, hohe Herren haben ihre Astrologen, Alchemisten versuchen weiter unter faszinierten Augen Gold herzustellen, Hexen und Zauberer werden verfolgt, weil man an ihre Kräfte glaubt und die Medizin bringt möglichwerweise mehr Menschen um, als sie heilt. 

 

Das 16. Jahrhundert, in dem der Kapitalismus schon lange irreversibel geworden ist, moderne Staatlichkeit sich in einzelnen Gegenden durchsetzt und zugleich, damit untrennbar verbunden, der sich vom kirchlichen Dogma lösende Forschergeist Fahrt aufnimmt, nimmt nun Dämonen, Geister und andere okkulte Wesen stärker in das sich verwissenschaftliche Denken auf, um die der Vernunft nicht erreichbaren Lücken zu schließen. Im verwissenschaftlichten Hexenwahn wird dann Wissenschaft nach dem Vernunftgebrauch der Inquisition erneut ihre mörderische Seite offenbaren, die ihr als ein Aspekt geblieben ist.

 

 

Schulen (Materialsammlung)

 

Kurz nach Einführung der Reformation wird in Nürnberg eine vom Rat beaufsichtigte "Oberschule" eingerichtet, an der Melanchthon als Leiter dient und die kostenlos ist. Sie soll auf die Universität vorbereiten. Insgesamt gibt es aber viel mehr Abacus-Schulen, die direkt auf kaufmännische Tätigkeit oder andere Berufe vorbereiten. Manchmal werden wie in Siena Rechenlehrer wie der Piero dell'Abaco von der Stadt bezahlt, dieser erhält seit 1461 45 Florentiner Goldgulden. Praktischerweise wird er von der Stadt auch als Vermesser und technischer Berater für städtische Bauprojekte eingesetzt. (Stevenson, S.237)

 

Ein Basler Schulmeister wird 1517 mit zwei Schildern an der Straße um Kunden. "Auf einer der Tafeln sind der Schulmeister und seine Frau dargestellt. Darüber verspricht eine Inschrift den einfachen und schnellen Erwerb der Schreibkunst, um eigene oder fremde Schulden aufschreiben zu können. Wäre jemand hingegen so ungeschickt, dass er die Schreibkunst nicht erlernen könne, würde er das Honorar zurückerhalten." (Ertl, S.214)

 

Schulen sind wie in Köln oft an Pfarreien angebunden. Weiterhin ist Auswendig-Lernen wichtigster Vorgang und die Rute Erziehungsmittel. Zu seiner ersten Schule schreibt Hermann von Weinsberg: Auf dieser Schule habe ich angefangen, stillsitzen und schweigen zu lernen, hab auch das ABC lesen und schreiben gelernt, das Paternoster, Avemaria...  Geschrieben wird wie zuvor auf lange wiederbenutzbare Wachstäfelchen. Mit zwölf Jahren ist oft die Schulkarriere zu Ende, wer es sich leisten kann und will, schickt den Jugendlichen dann nach auswärts auf namhaftere Schulen. Mit 16 Jahren landet man dann unter Umständen auf einer Hochschule, in Köln für drei Jahre auf einer der Bursen. Dort werden die Studenten zwar beaufsichtigst, in der Stadt führen sie sich des öfteren auch weiterhin altersgemäß unbändig auf.

 

 

"Humanisten"

 

Thomas Morus (1478-1535)

Morus studiert in Oxford Logik, Latein und Griechisch. Er wird Rechtsanwalt und 1504 Mitglied des Parlaments. Er lehrt dann in London Recht, schreibt 1516 seine 'Utopia' und tritt im Jahr drauf in den Dienst des Königs. Als frommer Katholik wendet er sich gegen Luther und lässt seine Anhänger in England brutal verfolgen.

Als Henry VIII. mit Rom bricht, tritt Morus als Lordkanzler zurück. 1534 weigert er sich, den Eid auf die königliche Suprematie über die Kirche zu leisten, und wird im Jahr darauf hingerichtet.

 

Sein 'Utopia' beginnt mit einer scharfen Kritik des damaligen Englands. Was folgt, mag auch von Amerigo Vespuccis Reisebriefen und anderen Berichten aus der Neuen Welt inspiriert sein. Es geht um eine Republik mit gewählten als Inselwelt mit monogamer Ehe, patriarchalen Strukturen, gemeinsamem Besitz ohne Geld, rationalen Entscheidungs-Prozessen, Vorstellungen von Gleichheit, Arbeitspflicht in der Stadt mit gelegentlicher Verschickung zur Arbeit aufs Land und hohem Wert von "Bildung".

 

Was auf den ersten Blick wie die Beschreibung einer platonschen oder (national)sozialistischen Terror-Diktatur wirkt, entpuppt sich eher als von Widersprüchen durchsetzte Dystopie, einen üblen Spaß. Die wird nämlich garniert mit dem an Epikur und Lukrez gemahnenden Satz der Utopier, dass alle unsere Handlungen, und damit die Tugenden selber, ausschließlich das Vergnügen und die Glückseligkeit zum Ziel haben(Buch 2), was aber dadurch komplett konterkariert wird, dass die, welche denken, die Seele stürbe mit dem Körper, und glauben, der Zufall regiere das Universum, verhaftet und versklavt werden sollen.

 

Erasmus von Rotterdam (um 1467-1536)

1509 'Lob der Torheit', Thomas Morus gewidmet

 

Kopernikus (1473-1543)

 

Giordano Bruno (1568-1600)

Er studiert in Neapel, wird Dominikaner und dann Priester. Er muss erst aus Neapel und dann aus Rom fliehen. Unter dem Einfluss antiker Naturphilosophie und der Entdeckungen des Kopernikus entwickelt er sein Weltbild. In Genf gerät er mit dem Calvinismus in Konflikt und hält dann Philosophie-Vorlesungen in Toulouse. Über Paris gelangt er dann nach England, wo er in Dispute gerät, wie danach wieder in Paris. Schließlich versucht der streitbare Gelehrte vergeblich in deutschen Landen einen Lehrstuhl zu erhalten. Er kehrt 1591 nach Italien zurück und wird 1492 in Venedig von der Inquisition verhaftet. Die Vorwürfe gegen ihn werden langsam auf zwei reduziert, aber ganz widerrufen möchte er nicht. 1600 wird er darum öffentlich verbrannt.

 

Bruno vertritt eine Art Pantheismus auf der Basis eines neoplatonischen Idealismus. Anstelle des Atoms benennt er die Monade als unteilbare Einheit im Weltall. Dieses wierum sei unendlich. Um Sonnen kreisen Erden wie die unsrige.

 

Galileo Galilei (1564–1642).

 

Michel de Montaigne (1533-92)

Er wird auf dem Schloss Montaigne geboren, dass sein Vater, ein Kaufmann aus Bordeaux, gekauft hatte. Er spricht bereits bestes Latein, als er in Bordeaux auf eine Schule kommt, auf der er auch Altgriechisch lernt. Nach Studienjahren wird er Gerichtsrat für den Cours des aides des Perigueux und anderen Instituten und kultiviert eine enge Freundschaft mit de la Boétie, dessen große Bibliothek er dann erbt. Bei Ausbruch der Hugenottenkriege bekennt er sich zum Katholizismus. Schließlich erbt er das Schloss Montaigne, nach dem er sich nun benennt, und zieht sich ganz dorthin als Privatier zurück. Dabei entwickelt er die später so genannte Form des Essais.

 

 

Agricola

Humanismus im engeren Sinne meint die studia humanitates, wie sie schon die Frührenaissance-Italiener verstehen, also der säkularen (auch nichtchristlichen) Literatur zunächst der lateinischen, dann auch der griechischen Antike, philologische Intellektualität also. Im weiteren Sinne ist er aber eine allgemeine Erweiterung und Vertiefung jener ernsthaften Belesenheit, die sich eben nicht nur an dem Studium und der so empfundenen Fortführung antiken Literatentums abarbeitet, sondern sich überhaupt den irdischen Dingen zuwendet, der "Natur" ebenso wie den wirtschaftlichen Mitteln zur Erzeugung von materiellem Reichtum.

Ein Musterbeispiel ist der sächsische Georg Pawer (= Bauer, 1494-1556), der sich modisch in Agricola latinisierte. Aus der gehobenen Mittelschicht stammend, studiert er in Leipzig und wird zunächst Schulmeister. arbeitet dann nach erneuten Studien in Venedig als Lektor antiker medizinischer Texte, wird Stadtarzt und Apotheker in Joachimsthal und Chemnitz, dann Bürgermeister dort.

Neben politischen Texten schreibt er ein bahnbrechendes Werk über Mineralogie und das erst nach seinem Tode veröffentliche 'De re metallica libri XII', das Handbuch des Berg- und Hüttenwesens für die nächsten Jahrhunderte.

 

So wie Agricola mit den Herzögen von Sachsen verbandelt war, war insbesondere die technische Intelligentsia Fürstendiener und Diener des großen Kapitals, besonders wenn sie sich mit Bergbau, Metallurgie und einer Art Proto-Chemie beschäftigte.

Technisch ist mit solchen Leuten ein Niveau erreicht, welches erst durch die Industrialisierung des 18./19. Jahrhunderts überschritten wird. Es übersetzt sich in Maschinen, deren wichtigste die Mühlen bleiben, in Geräte und in Instrumente. Insbesondere die Feinmechanik von Instrumenten-Herstellung (Kompass, Uhr, Brille etc.) führt zu jener Präzision, wie sie sich in der Rechen- und Zeichenkunst niederschlägt und die zugleich ihre Voraussetzung ist.

Technische Probleme sind oft auch Ausgangspunkt für die Fortschritte in der Astronomie und Physik.

 

Adam Riese (1492-1559)

Es ist kein Zufall, dass der Staffelsteiner Mathematiker Adam Riese in die Bergbaustadt St.Annaberg zieht und dort als Schreiber in die Dienste des Landesherrn tritt, nicht zuletzt, um seine Rechenkünste darauf zu verwenden, dass sein Herr nicht zu wenig Abgaben einheimst. Als Rechenmeister schreibt er daneben die bedeutendsten deutschsprachigen Algebra-Lehrbücher seiner Zeit. Auch mit ihnen setzen sich endgültig die für Rechenoperationen viel leichter handhabbaren indisch-arabischen Ziffern gegen die lateinischen durch.

 

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Kapital, Investitution und Konsum sind die eine Seite der Entwicklung, die andere ist die der technischen Innovation und Verfeinerung. Die davon abgehobene Gelehrsamkeit hat sich zwar, ohne das laut zu thematisieren, in der Praxis sehr stark aus den religiösen Fesseln befreit, bleibt aber intellektuell im wesentlichen in den Fesseln der säkularen Machtverhältnisse. Auseinandergesetzt wird sich mit persönlichen Verhaltensweisen und es wird zunehmend säkular moralisiert, noch im alten Sinne des Wortes, nicht im heutigen politischer Korrektheit.

 

 

 

 

William Shakespeare

 

 

Die alten und die neuen Mächte

 

 

 

Am Ende des 'Hamlet' sprechen Hamlets Freund Horatio und der neue Machthaber Fortinbras. Der eine, seinem Namen getreu, hatte bei Hamlets Sterben gerade entdeckt, dass er mehr Römer und weniger Däne sei. Der andere, gerade aus einem blutigen Feldzug nach Polen zurückgekommen, einer Laune des norwegischen Herrschers folgend, gibt dem toten Hamlet alle militärischen Ehren.

 

 

 

Die gängige Interpretation sagt, dass der waffenklirrende Fortinbras, der brudermörderische König und sein inzestuöses Weib die Mächte der Vergangenheit seien und die humanistisch beeinflußten Wittenberger Studenten wie Hamlet oder Horatio und in Paris gebildete junge Weltmänner wie Laertius die Zukunft, die neue Zeit repräsentierten. Die neue Zeit sei nachdenklich, zögerlich und aus der Vergangenheit nährten sich die Männer der Tat wie Hamlets Mutter und Onkel, höfische Schönschwätzer wie Polonius oder Recken wie Fortinbras. Davon ist in dem Theatertext nichts zu lesen.

 

 

 

Das Wittenberg des 'Hamlet' ist für die zeitgenössischen englischen Theaterbesucher eine bedeutende humanistisch beeinflußte Universität. Hamlet und Horatio sind fellow-students, scholars, und Hamlet möchte gegen den Willen seines nun königlichen Onkels gerne dahin zurück, so wie es Laertes nach Paris zurück zieht. Ihnen allen mag sich der vermutliche Autor, der Earl of Oxford, nahe gefühlt haben, bittet er doch seine Königin des öfteren um die Erlaubnis, sich vom Hof zu entfernen und auf den Kontinent zu reisen. Wir haben es auf dieser Ebene mit der Zeit des (sichtlich) nahen Endes der ersten Elisabeth zu tun, Polonius repräsentiert die Zukunft höfischer Etikette und Verhaltensweisen, Fortinbras verweist auf das im 17. Jahrhundert zunehmende Söldnerunwesen, und die scheinbar archaische Ruchlosigkeit der Königin und ihres Schwagers wie bei Macbeth und Lear auf den Bruch mit einer tradierten Ordnung, durch den die Welt aus den Fugen gerät. Mord, Inzest, Lug und Trug werden nur in Macbeth mit seiner Vision hin zur Stuart-Herrschaft gemildert. Die aber ist ein höfischer Kotau des Autors in einem seiner schwächsten und darum unvollendeten Stücke..

 

 

 

Andererseits: 'Hamlet' spielt in einer früheren Zeit, in der Skandinavier England unter ihrer Knute haben, also lange vor dem magischen 1066 des Modernisierers Wilhelm von der Normandie. Wittenberg ist ein Anachronismus und es gibt kaum höfische Kultur im Norden und Nordwesten des Abendlandes. Hamlet ist kein heimgekehrter Modernisierer Dänemarks, er überläßt diese Aufgabe Fortinbras. Er ist vielmehr einer, der mit einer Handvoll anderer junger Leute, die in der Fremde vom dänischen Fortschritt ausgeschlossen waren, vom Neuen in den Tod getrieben wird. Was sagt Hamlet dem “Geist” seines Vaters nach dem berühmten The time is out of joint: O cursed spite / That ever I was born to set it right!

 

 

 

Wichtiger noch ist eine andere Ebene: Direkt zuvor, auch am Ende des ersten Aktes, mit demselben Ghost unterhalb der Bühne, sagt Hamlet seinem Freund: There are more things in heaven and earth, Horatio, / Than are dreamt of in your philosophy. Das Schauspiel ist nicht so platt, dass uns der Autor hier sagen möchte, daß es jenseits des neuen aufgeklärten Zeitalters auch noch Geistererscheinungen geben könne. Die Militärs sehen den Geist des Vaters von ihrem Ausguck, Hamlet sieht ihn, - Where, my Lord? fragt Horatio und erhält die Antwort – In my mind's eye, Horatio. In III-2 sind es seine imaginations, mit denen er sieht. Es ist seine Vorstellungskraft.

 

 

 

In III-4 erscheint der “Geist” während der großen Unterredung zwischen Hamlet und seiner Mutter. Hamlet redet mit ihm, die Mutter sieht nichts und hört nichts. I set you up a glass / Where you may see the inmost part of you, hat ihr Hamlet vorher angekündigt. Tatsächlich sieht die Mutter nicht nur den Geist nicht, sie sieht auch nicht viel, wenn ihr Hamlet ihr Innerstes vor Augen führt. Deshalb gibt ihr Hamlet folgendes vor: Assume a virtue, if you have it not. / That monster custom, who all sense doth eat, / Of habits devil, is angel yet in this, / That to the use of actions fair and good / He likewise gives a frock or livery / That aptly is put on. (III-4) Die Mutter ist hohl und flach, und um ihren neuen Gatten ist es nicht besser bestellt. In the very witching time of night akzeptiert er einen Moment seine Schuld wie Hamlets Mutter, aber er kann sie nicht bereuen (repent), - seiner Ansicht nach, weil er nicht von der Beute lassen kann, die sie ihm eingebracht hat. Beide haben keine Vorstellungskraft wie Hamlet, weil innen die Substanz fehlt. Wie Macbeth sind sie innerlich karg, so clever sie sich nach außen geben. Ihre momentane Verzweiflung ist keine innere Zerrissenheit wie beim Titelhelden, der sich wie an einer Antinomie der Vernunft zerreibt, sie leiden wie gestellte Übeltäter, die es nicht einmal wert sind, der gerechten Rache ausgeliefert zu werden.

 

 

 

Am Ende zieht die fortschrittsgewisse Moderne mit militärischem Gepränge und klingendem Spiel ein: Die Hoffnungträger wider Willen werden abgeräumt; im Rahmen des Schauspiels gibt es keine Hoffnung mehr.

 

 

 

Zurück nach Ilion und noch einmal Shakespeare/de Vere

 

 

 

Paris hat dem Menelaos die schöne Helena geklaut und schon viele Jahre belagern deswegen (?) die Griechen Troja. Es gibt keine Feinde, sondern nur Gegner, aber den Griechen wird jede (Hinter)List recht sein, das schöne Ilion zu zerstören. Agammemnon, der Fürst der Griechenfürsten, hat Achilleus sein Lustmädchen Briseis weggenommen, und der verliert darauf verärgert die Lust am Krieg. Ohne den großen Helden tut sich aber nicht mehr viel, bis auch sein Lustknabe Patroklos getötet wird.

 

 

 

Vor gut 2000 Jahren hat man aus der homerischen und später der Vergilschen Quelle ein drittes Liebes-Drama dazugedichtet: Die schöne (trojanische) Cressida wird von ihrem Onkel Pandarus mit dem trojanischen Helden Troilus zusammengebracht. Ihr mit seherischen Fähigkeiten begabter Vater Kalchas ist zum griechischen Feind übergelaufen, und im Zuge eines Gefangenenaustausches gelangt sie chließlich zum Vater, in die Hände der Griechen und insbesondere die des Diomedes, dessen muskelstarrender Männlichkeit sie zum großen Unglück des Troilus erliegt.

 

 

 

Im 14. Jahrhundert macht Bocaccio daraus eine italienische novella mit dem Titel 'Filostrato' und wenig später formt das Geoffrey Chaucer um in das Versepos von 'Troilus and Cresseyde'. In der zweiten Quarto-Ausgabe der Werke Shakespeares von 1609 entdeckt dann die lesende Öffentlichkeit ein Drama gleichen Namens.

 

 

 

Im Shakespeare-Stück gibt es keine Helden mehr, sondern nur noch Heldendarsteller, die einen abstrusen Krieg um eine Frau führen, die es nicht wert ist. Helena ist eine “Hure” wie Cressida, dem jeweils erfolgreicheren liegen sie in den Armen. Liebe ist beliebige Fleischeslust, die mit der Syphilis Hand in Hand geht. Wenn die “Helden” in die Schlacht ziehen, steigen Damen auf den Turm, um dem Schauspiel zuzuschauen. Dort wird gehackt und zerhackt, zerstochen und das Blut spritzt. Für die nicht mehr noblen Aristokraten hat der ohnehin nicht edle Seher und Narr Thersites nur bitterste Galle übrig, die er in der übelsten Gossensprache verspritzt.

 

 

 

Das Schauspiel eines Schauspiels beginnt mit dem trojanischen Königsohn Troilus, den die Verliebtheit in Cressida unfähig macht, noch in die Schlacht zu ziehen. Sein Kampf ist der, den er in sich austrägt, und damit ist er schwächer als die Träne einer Frau. Im Lärm der Trompeten entdeckt er Narren auf beiden Seiten. Helena muß schön sein (fair), wenn ihr sie täglich mit eurem Blut beschminkt. Als er belauscht, wie leichthin Cressida sich an Diomedes wegwirft, treibt es ihn, diesen zu töten. Das ist kein homerisch-trojanischer Krieg mehr, sondern die Barbarei, die die Macbeths bewegt und die sich mit Urgewalt immer stärker in das Geschehen im Staate Dänemark wie eine Schwäre einbrennt. Die Frauen, bis auf Andromache und Kassandra, auf die niemand hört, sind Huren; Kalchas, der Vater der Cressida, ist ein Verräter, Achilles ist ein schwuler Lüstling, Agamemnon ein schwacher Oberbefehlhaber. Die Trojaner überlegen, ob sie nicht einfach Helena an die Griechen zurückgeben sollen, und es ist nur noch um des Schaupiels willen, dessen Puppen sie sind, dass sie weiterkämpfen. Ehre und Ruhm nennen sie als Gründe, aber der Zuschauer merkt, dass sie nur noch ohne Sinn und Verstand etwas weiter durchziehen, was hohles Zitat aus der Vergangenheit geworden ist. Die Griechen reden parallel dazu über die Tatsache, daß Helena das schon jahrelange Gemetzel nicht wert sei, und auch sie machen wegen Ruhm und Ehre weiter; sie sind es dem Theaterbesucher schuldig, etwas weiterzuspielen, was offenkundig absurd ist.

 

 

 

Pandarus versucht seiner Nichte klarzumachen, was für ein toller Held Troilus ist, der gerade wegen ihr nicht mehr mitmetzelt: look you how his sword is bloodied, and his helm more hacked than Hector's. In Cressidas Sprache ist immer ein Stück Gosse, wenn es um die Liebe geht. Pandarus, dem pander, erklärt sie: If I cannot ward what I would not have hit, I can watch you for telling how I took the blow, unless it swell past hiding, and then it's past watching. Also: Wenn sie ihre Jungfernschaft nicht vor der Zerstörung bewahren kann, kann sie wenigstens darauf achten, dass Pandarus nicht erzählen kann, wie es sie traf, es sei denn, ihr Leib schwillt so an, dass man es nicht mehr verbergen kann, und dann muß man überhaupt auf nichts mehr aufpassen.

 

 

 

Ihre Ehrbarkeit, ist wie später die von Pamela, ein reines Machtmittel: Women are angels, wooing: / Things won are done; joy's soul lies in the doing. Aus höfischem Frauendienst ist kaltes Kalkül geworden: Achievement is command. Ihr Widerstreben gegenüber Troilus und Diomedes ist Affentheater.

 

 

 

Thersites sagt, die Helden seien allesamt Idioten. Troilus sagt Hektor, die Vernunft mache aus dem Krieger ein Hasenherz: reason and respect / Make livers pale and lustihood deject. Troilus und Achilles sind weder Hasenherzen noch vernünftig, sie zieht es zur Lust des Liebeslagers. Kämpfen werden sie erst wieder aus persönlicher Verletztheit.

 

 

 

Aus den Fugen

 

 

 

In der ersten Szene des dritten Aktes redet Pandarus mit einem Dienstboten (servant); Pandarus fragt ihn, ob er dem jungen Herrn (Lord) Paris folge, das heißt: diene. Antwort: Ja, wenn er vor mir geht. Frage: Du hängst von ihm ab (depend), Antwort: Ich verlasse mich (depend) auf den Herrn (Lord). Du hängst an (depend upon) einem beachtlichen Herrn (gentleman), ich muss ihn loben (praise) – Der Herr sei gelobt (The Lord be praised). Später fragt Paris' Dienstbote: Sie sind im Zustand der Gnade (in the state of grace)? - Antwort des Pandaru: Grace? Not so, friend: honour and lordship are my titles.

 

 

 

Service, Dienst, ist das, was der höfische Liebhaber seiner Dame gegenüber leistet, in Analogie zu dem Dienst des feudal Abhängigen gegenüber seinem Herrn. Das Folgen des Dienenden (des “Mannes”) ist das Leisten von Gefolgschaft. Soweit ist der Servant kein Dienstbote, sondern einer aus dem Gefolge des Paris. Anderereits verhält er sich ganz und gar wie der höfische Narr, der seinen Herrn mit Witz (wit) unterhält. Insofern ist er im Gefolge, er folgt seinem Herrn ganz wortwörtlich (wie er selbst sagt), er gehört also nicht zum Gefolge.

 

 

 

Dem Spiel zwischen feudalem und modernem “Dienst” entspricht das zwischen feudalem Dienst und Gottesdienst. Lobe den Herrn in dieser Doppeldeutigkeit ist Profanisierung des Göttlichen im Wortspiel, genauo wie Im Stand der Gnade sein: Grace ist der Titel des Herzogs, Pandarus ist nur Lord, der mit your honour angesprochen wird, Ehre sei aber dem Herrscher des Himmels.

 

 

 

Die himmlischen und irdischen Ordnungen werden in diesen Wortspielen nicht nur ins Spiel gebracht, aufs Spiel gesetzt, sie sind am Ende nur noch loses Spiel. Die feudalen Anachronismen in Chaucers Trojaepos sind nicht abwegig, ist für diesen Autor die trojanische Geschichte wie für Ovid oder Bocaccio nur der Handlungsvorwurf, in den sie eine zeitgenössische Liebesgeschichte einbetten. Die Shakespeare/ de Vereschen Anachronismen sind Absicht, der Stand der Gnade und Praise the Lord sind jedem Zeitgenossen hier als Verweis auf die godly people erkennbar, die Feinde solchen Theaters und der feudalen Strukturen. Es geht andererseits in 'Troilus and Cressida' nicht um die Puritaner, es geht darum, daß nichts mehr stimmt, in Ordnung ist. Die Welt ist unzuverlässig geworden, wie der Zeitgenosse John Donne unablässig klagt, bei dem time nicht weniger als bei Shakespeare is out of joynt.

 

 

 

Der Schlachtenlärm vor den Mauern Ilions klingt aus im Epilog von Pandarus, der nun von sich selbst als pandar (Kuppler) spricht, das Theaterpublikum als Good traders in the flesh anredet, als Brethren and sisters of the hold-door trade und erst von seinen Geschlechtskrankheiten redet und sie dann dem Publikum an den Leib wünscht.

 

 

 

Nicht nur die Puritaner, sondern auch ihre gebildeten Gegner sind erfaßt von einem tiefen Unbehagen an der Moderne, einem Schrecken, einem Weltekel, der bei 'Troilus and Cressida' ganz und gar stehen bleibt. Alles kreist um Sexus und Gewalt, letztere ist widersinnig geworden, die Geschlechtlichkeit wiederum beschmutzt und voll animalicher Gier bei den Männern und listigem Hintersinn bei den Frauen. Die puritanische Lösung wird das religiös motivierte Kehren der Gewalt gegen sich selbst, nicht zuletzt als Härte gegen die eigene Geschlechtlichkeit.

 

 

 

Was immer Werther sich dabei gedacht haben mag, mit “seinem” Homer in der Gegend herumzuwedeln, es ist keine behagliche Lektüre. Der Einstieg in das Abendland, das wir heute kennen, ist höchst kunstvoll, aber die Kunst eröffnet eine beschädigte Welt. Das literarische Abendland beginnt mit einem doppelten Untergang, dem gänzlichen Ilions und dem erheblichen der vorklassischen griechischen Welt. Das historische Abendland erlebt den Concursus Athens, Spartas, der hellenistischen Reiche, Roms, des feudalen neuen Roms des Mittelalters. Die Entfaltung eines ruinösen Keims scheint die abendländische Geschichte auszumachen, die wohl am besten mit dem Begriffe Krise gekennzeichnet wird.