Höfische Welt (Hof / Hövescheid: Herrschaft und Selbstbeherrschung / Ehe, Eros, Liebe /
Literatur / Mode und Stil)
Kirche und Christentum (Ergebnisse der Reformen / Glauben und häretische Frömmigkeit /Zisterzienser / Bettelorden / Kirche und Geschäft)
Intellektualität (Lesen, Schreiben, Rechnen / Glaube, Vernunft und Argument / Wissenschaften / Universität)
Neben der Welt der Machtstrukturen und zugleich mitten in ihnen geraten auch andere Welten in Bewegung. Eine höfische und dabei immer luxuriösere Welt, die von der Arbeit von Bauern und Handwerkern und dem Unternehmertum eines immer wichtigeren Kapitals wie Schmarotzer lebt, schließt sich weitgehend vom "Volk" ab, wobei sich die winzige reiche Elite dieses "Volkes" immer mehr an nobel-höfischen Kreisen orientiert. Dieses größer werdende Kapital löst sich wiederum von den Welten von Bauern und Handwerkern, wobei die Handwerker in den Städten sich auch deutlich von den Bauern absetzen können.
Die Reformen der Papstkirche scheitern in fast allen wesentlichen Punkten, vielmehr verweltlicht Kirche weiter bei gesteigertem Machtbewusstsein ihrer meist adeligen Prälaten. Reformen jenseits der Kirche werden verfolgt, und die der Zisterzienser versandet bald mit ihrer Integration in den sich ausweitenden Markt.
Feine Herren, Bauern, Handwerker und Kapital trennen fast allesamt zwischen wirklichem Alltag und dem notwendigen Beiwerk der (kirchlichen) Religion, die von diesem Alltag verändert wird und dabei immer mehr an Substanz verliert. In diesem Zwiespalt, aber noch ganz in die "allein seligmachende" Kirche eingebunden, beginnen einzelne Intellektuelle unter Rekurs auf Aristoteles immer mehr Vernunftgebrauch in ihr Denken einzubringen. Zugleich entsteht eine Fiktionen von "Liebe" und "Heldentum" hervorbringene und dabei dann manchmal auch nachdenklicher werdende Dichtung, die zu großen Teilen Religion massiv an den Rand drängt.
Höfische Welt (siehe ausführlicher: Anhang 34)
***Der Hof***
Curia war im antiken Rom der Senat und der Ort, wo er tagte. Der "Hof" (curia, curtis) bezeichnet nun sowohl ein befestigtes Steingebäude, oft mit einem Innenhof, als auch den Haushalt und die Lebensformen derer, die sich dort aufhalten. Unter den Staufern kann er auch jeden königlich-kaiserlichen Hoftag bezeichnen, selbst wenn der auf freiem Feld stattfindet. (Laudage)
Ein Hof setzt sich aus der fürstlichen Familie und denen zusammen, die dort Dienste leisten. Herausgehobene Hofämter haben der Truchsess (Versorgung der Tafel), der Marschall (Versorgung der Pferde und des Militärs), der Kämmerer (Garderobe, Geldzufuhr und -Verwaltung) und der Mundschenk inne.
Zusammen mit weiterem Personal kommt ein großer Hof im zwölften Jahrhundert schon mal auf 50-100 Leute, die aber nicht unbedingt alle auf der Burg wohnen, und die in engeren und weiteren Kreisen rund um den Fürsten angeordnet sind. Nichtadelige Dienstboten im Stall und in der Küche wohnen und leben dabei auf Distanz zum Fürsten und schlafen, soweit überhaupt auf der Burg, zu mehreren in einem Raum. Es gibt so auf relativ engem Raum ein richtiges Gewimmel von Leuten.
Zugang zum Hof eines Königs oder Fürsten ist Zugang zur Macht, und diesen sucht bedeutenderer Adel immer wieder. Damit wandelt sich der Hof als Personenkreis ständig, es herrscht wohl erhebliche Unruhe, wie Peter von Blois vom angevinischen Königshof beschreibt. Ende des 12. Jahrhunderts schreibt der englische Hofkleriker Walter Map:
In curia sum, et de curia loquor, et nescio, Deus scit, quid sit curia. (in z.B.: Haas, S.202) Ich lebe an einem Hof und rede über den Hof, doch was er eigentlich ist, weiß ich nicht. (...) Zwar weiß ich, dass der Hof nicht mit der Zeit identisch ist. Aber er ist vergänglich, wandelbar und unterschiedlich, an einen Ort gebunden und doch unstet.; niemals verbleibt er im selben Zustand. Wenn ich ihn verlasse, kenne ich ihn durch und durch; aber wenn ich zurückkehre, finde ich nichts oder fast nichts von dem wieder, was ich verließ (...) Wenn ich den Hof beschreiben sollte (...) so würde ich vielleicht nicht lügen, wenn ich ihn eine nicht genau bestimmbare Menschenmenge nennen würde, die sich auf einen einzigen Ausgangspunkt bezieht. (in: Laudage/Leverkus, S.76)
Ein wesentlicher Aspekt ist, dass hier im Tanz der Eitelkeiten, Schmeicheleien, Unterstellungen und der alltäglichen Konkurrenz der Höflinge parallel zu der Entwicklung einer Selbstverwaltung in den Städten eine Sphäre des Politischen entsteht, die auch jenseits feudaler Rechtsformen das Spiel der Macht unterhalb der eigentlichen Herrscher ausbildet.
Fürsten schöpfen die Einkünfte ihrer Untertanen soweit wie möglich für ihre persönlichen Konsum-Bedürfnisse wie die des Machtapparates ab, ohne dass in der Regel dem steten Vermehrungsdrang des Kapitals Grenzen gesetzt werden. Mit den daraus resultierenden Finanzmitteln wird die fürstliche Macht nach innen (unten) und nach außen (nebenan) ausgebaut. Der wesentliche weitere und genauso wichtige Effekt des zunehmenden Reichtums der Mächtigen ist seine Rolle für die Nachfrage nach Gütern auf einem immer wichtigeren Markt.
Reichtum zeichnet neben "edlem Kriegertum" Macht aus, wie zum Beispiel schon Lampert von Hersfeld um 1080 immer wieder betont. Das ist zunächst einmal aus vorkapitalistischen Zeiten übernommen und genauso von orientalischen Despoten bekannt. Reichtum ist eine Art Mengenangabe, man besitzt viel von dem, was reich macht.
Der Hof eines Herrschers dient auch der Abbildung und sinnlichen Verdeutlichung der Macht. Die Abschottung der Fürsten vom Alltag der Untertanen und von dessen Wahrnehmung ist dabei bereits in vollem Gange.
Nichts macht das deutlicher als repräsentative Bauten der Macht, die immer noch im Kern Festungsbauten sind, Burgen, die immer größer werden und ein luxuriöseres Innenleben aufweisen. Rahewin, der Fortsetzer von Otto von Freising, meint, dass Kaiser Friedrich I. mit Pfalzbauten wie den von Nimwegen die ihm eigene Größe seines Wesens zeigt. Einige deutsche Fürsten wie der von Thüringen halten mit Gebäuden wie der Wartburg mit. Auf solchen Burgen wird gehobene Ritterlichkeit als Schauspiel nicht zuletzt bei Festen inszeniert.
Bei Friedrich II. wird Reichtum an mobilen Werten dann bereits gelegentlich für eine breite und staunende Menge von Gaffern propagandistisch verwendet. Beispielhaft sei der Text über den Einzug Kaiser Friedrichs II. 1235 in den deutschen Landen erwähnt, dessen Ziel die Absetzung seines Sohnes Heinrich war:
Er aber fuhr, wie es der kaiserlichen Macht geziemt, in großer Pracht und Herrlichkeit einher, mit vielen Wagen, beladen mit Gold und Silber, Batist und Purpur, Edelsteinen und kostbarem Gerät, mit vielen Kamelen und Dromedaren. Viele Sarazenen und Äthiopier, verschiedener Künste kundig, mit Affen und Leoparden, bewachen sein Gold und seine Schätze. So gelangte er inmitten einer zahlreichen Menge von Fürsten und Rittern bis nach Wimpfen. (Fortsetzung Gottfrieds von Viterbo zu Eberbach, in: Eickels/Brüsch, S.275)
Man muss neben den Schätzen und der bewusst zur Schau gestellten Exotik auch noch die blitzenden Rüstungen und bunten Bekleidungen vor Augen haben, die Begleitmusik hören und den auch hier zu vermutenden Jubel des Publikums, zu dem sich wohl auch die Armen in einigem Abstand gesellen. Eine Etage über der Blüte eines frühen Kapitalismus, diesen vorübergehend unsichtbar machend, bewegen sich Fürsten in einem Aufzug, der ein wenig an Zirkus und ein wenig an orientalische Despotie erinnert, und laden Untertanen zur Bewunderung ein.
Luxus dient einmal der Zurschaustellung und zum anderen dem fürstlichen Vergnügen. Ein immer größeres Amüsierbedürfnis charakterisiert zudem die Höfe, die entsprechendes Amüsier-Personal anziehen, wie Peter von Blois vom angevinischen Königshof beschreibt:
Dem Hof folgen ständig Spielleute, Sängerinnen, Würfelspieler, Süßigkeitenhändler, Weinverkäufer, Narren, Schauspieler, Bartscherer, Gaukler aller Art, von Huren und Dienern, die über Hofgeheimnisse am besten Bescheid wissen, ganz zu schweigen. (in: EhlersHeinrich, S.231)
Der Amüsierzirkus an diesem Hof soll besonders groß gewesen sein:
"Ein berühmter Hofnarr - er trat unter dem Namen Roland der Furzer auf - kam zu ganz besonderem Ruhm: Er war dazu in der Lage, in die Luft zu springen und dabei gleichzeitig zu pfeifen und zu furzen. Die Hof-Prostituierten wurden zumindest in England und in der Normandie streng überwacht. Hier hatten Ranulf de Broc und Baldric FitzGilbert jeweils das Amt des Hurenmarschalls inne." (Ashbridge, S.220)
Sobald Machthaber geschlossenere Territorien anstreben und dann dazu neigen, an einem Hauptort zu residieren, versuchen sie den höheren Adel unter sich an ihren "Hof" zu binden. Ein wesentliches Instrument dafür sind aufwendige Feste, an denen Fürsten gleichrangige Freunde und untergebenen Adel versammeln. Das Ideal stellt Hartmann von der Aue um 1190 im 'Iwein' am Fest am Artushof dar:
diese sprachen wider diu wip / diese banecten den lîp / diese tanzten, diese sungen, / diese liefen, diese sprungen,/ diese hôrten seitspil / diese schuzzen zuo dem zil, / diese retten von seneder arbeit, / diese von grôzer manheit. (V)
Was macht man also: man redet mit Frauen, lustwandelt, tanzt und singt, betreibt Sport, hört Musik, schießt auf eine Zielscheibe, jammert über die Last der Liebe und lobt großes Heldentum. Teilweise etwas abseits gibt es dann auch "große Politik".
Oft können sich Fürsten auf die Neigung vor allem ihrer städtischen Untertanen verlasssen, sich mit Macht und Pracht zu identifizieren sowie auch mit ihren militärischen und diplomatischen Erfolgen.
Bürger und produktive Unterschicht in Städten, insbesondere in der Hauptstadt selbst, sind nicht nur das permanente Schauspiel des Hofes und besondere Spektakel darüber hinaus bewundernde Zuschauer, sie partizipieren im Maße des Erlaubten und nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten. Da das Reisen hoher Herren zu Pferde stattfindet, ist es entsprechend langsam, und wenn die Kunde hinreichend früh in die Ortschaften gelangt, säumen die Menschen in ihrer besten Kleidung die Straßen, schmücken sie zum Beispiel mit Blumen und stellen Musikanten (Pauken, Trommeln, Blasinstrumente) und Chöre als Begleitmusik. In der Inszenierung der Macht sind Untertanen meist die willigen Statisten, je ohnmächtiger, deso mehr.
***Hövescheit: Herrschaft und Selbstbeherrschung***
Ein langer Prozess seit der Nachantike führt dazu, dass sich an Höfen von Königen vor allem eine gewisse Selbstdisziplin durchsetzt, die das engere Miteinander vieler Menschen regulieren soll. Im 11./12. Jahrhundert setzt dabei ein neuer Schub ein, in dem ein Kodex verfeinerterer Umgangsformen vor allem von Westfranzien aus auftaucht.
"Höflichkeit" leitet sich zwar von der curialitas der mittelalterlichen Höfe ab, ist aber ohnehin als sozialverträgliches Verhalten in unterschiedlichen Formen schon Bestandteil aller Kulturen. Es handelt sich hier nun um Verhaltens- und Umgangsformen, die in erster Linie das Leben bei Hofe erleichtern sollen, dort, wo mehr Menschen als nur die Kernfamilie aufeinandertreffen. Erwünschter Nebeneffekt ist die deutliche Abgrenzung von allen "unhöfischen" Menschen darunter.
Um 1300 erklärt 'De regimine principum' des Aegidius Romanus, für König Philippe IV. geschrieben, das genau so:
Denn dadurch, dass an den Höfen der Adeligen (nobiles) eine sehr große Gesellschaft (societas) zu sein pflegt, schickt es sich für sie, höflich (politicus) und umgänglich (socialis) zu sein, weil sie ja in der Gemeinschaft sehr vieler leben. Bauern leben praktisch alleine und sind darum roh und wild. Bei Hofe hingegen wird man in höfisches Verhalten hinein sozialisiert.(in: Laudage/Leiverkus, S.218)
Was am Hof eingeübt werden soll, ist in einen größeren Rahmen eingeordnet: "Mit der Territorialisierung setzte eine Monopolisierung und Zentralisierung von Macht und Recht ein, die es vielen kleinen Adeligen nicht mehr gestattete, die eigenen politischen und rechtlichen Händel selbstherrlich mit der Waffe auszutragen. Stattdessen musste man den Rechtsweg über den Landesherrn suchen, wozu erhebliche Geduld und Zeit aufzubringen war. Eben dies aber hatte notwendigerweise eine Bändigung der gewalttätigen Affekte zur Folge. Die Geselligkeitsformen wie Tanz, Jagd, Turnier lassen sich also auch unter dem Aspekt der Domestizierung gewalttätiger Körper an einem Hof sehen." (Rüdiger Schnell in: Heinzle, S.128)
Es geht um das Verhalten in hierarchisch strukturierten Gesellschaften, weswegen Kernelemente höfischer Regeln zuerst im Kloster und dann in der Kirche eingeübt und dazu formuliert wurden.
Was (anders) in Kulturen tradiert wurde und durch Integration des Nachwuchses durch Nachahmung gelang, wird in den Strukturen institutionalisierter Macht, und solche sind zuvorderst auch Kirche und Kloster, durch Erziehung beigebracht und oft genug von klein auf auch eingeprügelt: Das Diktat des Kopfes über den Körper, Selbstbeherrschung, Impulskontrolle bis in die Körperhaltung, die Gebärden, die Mimik und die (bedachte) Redeweise. Es geht hier nun um das Wahren einer möglichst umfassenden Fassade in der Öffentlichkeit. Alles spricht dafür, dass ein Teil dieser unterdrückten Impulse in Aggressivität umgeleitet wird, die wiederum anderswo hin kanalisiert und ausagiert werden muss.
Höfische Zucht unter Bezugnahme auf antik-römische Klassiker beginnt bei Werner von Elmendorf (12.Jh.) schon mit kusche worte und schone gebere (gepflegte Worte und Gebärden bei Keupp, in: Laudage/Leiverkus, S.217)
Bekannt sind die Tischsitten: Nicht "die Finger in den Becher tauchen, nicht die fettigen Hände am Gewand abwischen und dann wieder ans Essen greifen, nicht (...) die Finger statt des Löffels benutzen" usw. (Bumke in: Heinzle, S.93) Zurückhaltung und Hygiene im heutigen Wortsinn sollen vorherrschen, jedenfalls keine Fressgier.
Laut dem 'Urbanus Magnus' des Daniel of Beccles vom spätem 12. Jahrhundert soll man sich bei Hofe nicht öffentlich die Haare kämmen, "die Nägel putzen, sich nicht kratzen oder in seiner Hose nach Flöhen suchen." Man sollte nicht barfuß sein und möglichst nicht in der großen Halle pinkeln. (Ashbridge, S.75) Auch das Verhalten gegenüber Frauen wird geregelt.
Dazu kommt die Sauberheit: Hände waschen, Zähne putzen, Fingernägel säubern, Haare kämmen.
Hier soll sicherlich neben der Impulskontrolle auch die Erinnerung an den animalischen Charakter des Körpers getilgt werden: Der Mensch ist als höfisch veredeltes (fast) Ebenbild Gottes nicht mehr einfach nur ein entartetes Säugetier. So schreibt Thomasin von Zerklaere im 'Welschen Gast' (1215/16):
Wer immer nach seinem Verlangen spricht und handelt, der hat den Verstand des Viehes. Der Mensch, der soll Vernunft (sinne) haben, denn das Vieh hat keine Vernunft. Einen anderen Unterschied als Tugend und Verständigkeit gibt es nicht zwischen Mensch und Tier. (in: Laudage/Leiverkus, S.229)
Das weltliche Ideal der Selbstkontrolle verlangt, wie auch die damaligen Romane immer wieder betonen, die Darbietung einer abgemessenen Heiterkeit (hilaritas) und nicht klösterlichen Ernst. Aber auch diese ist eine mühsam anzuerziehende Fassade. Tatsächlich ist höfische Disziplin eher Teil einer ungenierten Diesseitigkeit im Gegensatz zu allen religiösen Bewegungen. Vreude ist das Stichwort, oder joie, und sie kann schnell auch einmal kurz ungebändigt laut werden. Im 'Eneas' des Heinrich von Veldeke taucht ein sehr diesseitiges gelücke auf.
Auf dem Weg von Kloster und kirchlichem Hof zu seinem weltlichen Gegenpart, der ja demselben Adel angehört, wird den Frauen eine noch größere Selbstbeherrschung als Fassade auferlegt: Dazu gehören besonders gemessenes Schreiten, das Verbot des übereinander Schlagens der Beine beim Sitzen (ungeachtet der ohnehin bodenlangen Kleider) und des direkten Anblickens eines fremden Mannes. (Thomasin von Zerclaere z.B.).
Höfische Verhaltensweisen heben nicht nur vom volc ab, sie strukturieren zugleich ein Miteinander bei Fest und Alltag nach Rangordnung, und sie vermeiden bei Hofe möglichst Konflikte durch das Einüben anerkannter Verhaltensweisen jenseits von Gewalttätigkeit, was aber nicht immer gelingt.
Den Wandel kann man auch in der Anrede ablesen. Im frühen Mittelalter und noch bis ins 12. Jahrhundert duzen sich die Menschen ungeacht aller Rangunterschiede. Von der Francia ausgehend setzt sich aber dann als "ständische" Abgrenzung beim Adel das "Ihr" (vos) durch, und zwar zwischen Männern und Frauen. Um bei den Herrenmenschen die Ranghöhe zu definieren, wird nach oben mit "Ihr" angeredet und nach unten mit "du". Im 15. Jahrhundert werden Fürsten in deutschen Landen dann darauf bestehen, mit "Euer Gnaden" angeredet zu werden.
Schon von Elisabeth von Thüringen ("der Heiligen") wird berichtet, dass ihre christliche Neigung, ihre Dienerinnen zu duzen, von diesen bereits mit Irritation aufgenommen wird. (SchubertAlltag, S.291)
Mitte des 15. Jahrhunderts scheint es zu Unmut geführt haben, dass der Nürnberger Rat die Ritter seines Umlandes noch duzt, und es wird beschlossen, sie nun mit dem "Ihr" auszuzeichnen.
Selbstbeherrschung ist ein Ideal, über das wir deutlich mehr zu lesen bekommen als über die Wirklichkeit. Nur extrem impulsives und emotionsgeladenes Verhalten wird dort als ihr Gegenteil der Erwähnung wert befunden.
Andererseits bemerken Menschen wie bei Werner ("der Gärtner"): betrügen, das ist höfisch, anders gesagt, bei Hofe gilt die Verstellung. Und Papst Innozenz III. charakterisiert folgendermaßen den Höfling in 'De misera condicionis humane':
So spiegelt er Demut und Ehrlichkeit vor, zeigt nach außen Freundlichkeit und Wohlwollen, ist unterwürfig und kriecherisch, ehrerbietig gegenüber bückt sich vor allem, ist häufig bei Hofe, sucht Fürsten auf, steht auf und umarmt sie, applaudiert und schmeichelt. (in: Laudage/Leiverkus, S.228)
***Höfe: Ehe, Eros, Liebe***
Die Spannung zwischen Lebenswirklichkeit und offiziellen Normen, typisch für das römisch-christliche Abendland, nimmt immer weiter zu. Einerseits geht die Kirche nun den Weg der Sakramentalisierung der Ehe, was auch heißt, dass sie unauflöslich ist, sofern keine Ehehindernisse vorliegen. Dabei bleibt das mit Lust verbundene sexuelle Begehren zugleich Urgrund aller Sünden. Aber damit stimmt die Kirche mit den sich verengenden Normen von agnatischer Patrilinearität im Adel überein.
Andererseits begünstigt das eine immer öffentlicher werdende (höfische) Doppelmoral, welche dem Herrn das erlaubt, was der Dame verboten ist. Für Könige wie den zweiten englischen Heinrich oder Fürsten wie Heinrich ("den Löwen) ist es selbstverständlich, Mätressen zu halten. Von der Maitresse zur Prostituierten ist es manchmal nur der Schritt, dass Maitressen besser bezahlt werden und länger als nur einen kurzen Fick zu dienen haben. Aber auch veritable (etwas "bessere") Prostituierte halten nach und nach Einzug in den unteren Etagen der vornehmeren Burgen. Nach Turnieren dienen sich im Rahmen der Abschlussfestivitäten nicht selten der ritterlichen sexuellen Notdurft.
Manche literarische Sparten entdecken die Frivolität. Der auch am (erzbischöflichen) Kölner Hofe tätige Archipoeta kann so schreiben:
Ich geh auf dem breiten Weg, nach der Art der Jugend, / gebe mich den Lastern hin, denk nicht an die Tugend, und: Es ist äußerst mühevoll, die Natur zu
zwingen, / wenn ein Mädel (virgo) man erblickt, rein (purus) sich durchzuringen. (VII, in: Laudage/Leiverkus, S.234)
Ein weites Feld von Lyrik kommt auf, die teils einen Kult der Verehrung höfischer Damen betreibt, der sich als solide Verliebtheit mit oder ohne koitalem Erfolg darstellt, teils aber in das Feiern einzelner "Liebesnächte" auch mit Mädchen vom Lande übergeht. Eine allgemeine Erotisierung erfasst den höfischen Alltag, in dem der Herr der Dame öffentlich "dient" wie in einer feudalen Beziehung, und das durch Dichter feiern lässt. Derweil konterkariert die patriarchale Wirklichkeit das Ganze und in Gottfrieds 'Tristan' wird das alles noch klarsichtiger als Schwindel entlarvt (*1), während ein Andreas Castellanus in seinem Traktat über die höfische Liebe beschreibt, wie man sich am besten ein Bauernmädchen "nimmt": Sobald du einen günstigen Platz (locus) gefunden hast, zögere nicht, dir zu nehmen, was du begehrst und dir den Akt (amplexus) gewaltsam zu erzwingen. (in: De amore, I,11)
Und so schreibt der seinem Herrn Balduin von Guines an sich wohlgesonnene Lambert von Ardresum 1200 über ihn:
(...) er war so für zarte Mädchen und vor allem Jungfrauen entbrannt, dass weder David noch sein Sohn Salomon ihm im Verderben von kleinen Mädchen (iuvenculae)
das Wasser reichen konnten. (in: Dinzelbacher, S.139)
Im übrigen: Die Wirklichkeit sexuellen Alltags bleibt unter den Bedingungen institutionellen Drucks in Zivilisationen immer in Lügengespinste gehüllt. Aber bei allem antisexuellen Impetus der Reformkirche, ihrem sich verstärkenden Kult der Virginität Mariens, ihrem Zölibatsdruck tauchen neben der entstehenden volkssprachlichen Troubadourslyrik immer mehr erotische Gegentexte in Latein auf, von den neuen Scholaren formuliert. Der erneut herabgewürdigte Geschlechtstrieb wird von ihnen kompartmentalisiert, herausgelöst aus dem sonstigen Lebensalltag und dabei neu beobachtet, nicht zuletzt mit einer Haltung, die wir in sehr neuzeitlichem Sinne als Zynismus bezeichnen können.
Solche Erotisierung zeigt nun den Städtern an neuartigen gotischen Kirchen auch Statuen einer nackten Eva und von Jungfrauen, deren neuartige Bekleidung stärker ihre Körperformen abbildet, während die Herren ihre Beinkleider zunehmend immer höher bloßlegen.
***Literatur***
Literatur (eine viel spätere Wortschöpfung) ist ein ebenso unklares, weil vieldeutiges Wort, und ein so weites Feld wie im späteren Kapitalismus "Kunst". Die litterae, also die Arbeit mit dem geschriebenen Wort, war bis dato eine Sache der Gelehrsamkeit gewesen, der wenigen, die (lateinisch) schreiben konnten und die im 11./12.Jahrhundert eine neue Philosophie hervorbrachten oder nach antiken Vorbildern lateinische Verse schmiedeten, mit denen sie unter sich blieben. Das Neue ist ein Mehrfaches: Die Adressaten sind ein höfischer Hochadel und Herrscher, die in der Regel nicht nur nicht des Lateinischen mächtig sind, sondern immer noch oft überhaupt nicht lesen und schreiben können, also Vorleser und Schreiber brauchen. Sie bedürfen für ihr Unterhaltungsbedürfnis der "Literatur" in der Volkssprache und zugleich auch der Autoren, die entsprechend der neuen Zeit und ihrer Moden tihten, wie es auf deutsch jetzt heißt. Sie sind es zudem, die das Geld haben, um die teuren Materialien für die Verschriftlichung solcher Texte zu bezahlen, derer sie sich dann wohl auch zu rühmen beginnen. Es wird offenbar "schick", sich für einige Zeit einen tihtaere für seinen Hof leisten zu können.
Der kleine Kreis der "Gebildeten" und ihrer lateinischen und damit den meisten Menschen nicht zugänglichen Texte erweitert sich um eine zunächst ebenfalls kleine und deutlich weniger "gelehrte" Gruppe, die nun in den Volkssprachen schreibt. Das Lateinische bleibt die Sprache der Gelehrsamkeit und der Kirche, aber der frühe Kapitalismus und sein Wohlstand für eine kleine Oberschicht fördern zunehmend Texte für die nicht Gelehrten und nicht in den kirchlichen und monastischen Institutionen Verhafteten. Deren Inhalte sind entsprechend ganz andere.
Es geht um die Propagierung und Idealisierung von Machtverhältnissen und zugleich um Kurzweil, um Unterhaltung einer kleinen Oberschicht. Soweit handelt es sich um ein ganz triviales Bedürfnis, um kurzewîle als kurzzeitiges Aussteigen aus der Wirklichkeit ins schiere Amüsement. Wieweit der Problemgehalt, der diese Texte manchmal erst zusammenhält, dabei ebenfalls Unterhaltungswert hat, ist kaum noch nachzuvollziehen.
Elemente aus Sagen und Märchen werden mit Situationen mit aktuellem Wiedererkennungswert verbunden. Kapital oder Kapitalismus taucht kaum auf, die Begrifflichkeit des Marktes ist aber zunehmend in die Sprache integriert.
In dieser Welt einer ideologisierenden Eigentlichkeit, in der Macht zunehmend auch durch die edle Lebensform begründet und in ihr ausgelebt wird, spielt fiktionale Literatur eine immer größere Rolle. Dabei liefert sie einmal als Ritterepik und höfische Lyrik die ideologische Begründung für Herrschaft und Standesüberhöhung, zum anderen entwickeln beide aber zugleich, um aus dem Vorgebrachten Spannung zu erzeugen, innere Widersprüche und Problematisierungen. Kennzeichnend für solche Literaturen wie denen der Trouvères und des späteren deutschen Minnesangs, von Chrétien de Troyes oder Gottfried von Straßburg wird, dass das ritterlich-höfische Milieu, welches dargestellt wird, völlig ohne seine finanziellen Grundlagen auskommt und das städtische Milieu, welches solchen Eskapismus aus der Wirklichkeit mit seinen Strukturen fördert, kaum eine Rolle spielt.
So wie das Buch seit der Erfindung des Buchdrucks auch als Ware vom Markt abhängig wird, so ist es der Literat mit seinen Produkten bis dahin und noch darüber hinaus vom Wohlwollen des ihn subventionierenden Adels. Der Autor bindet sich an den adeligen und am besten fürstlichen Mäzen, der sich mit ihm schmückt, weil er mit seinen Werken zufrieden ist. Das prägt ihre Texte in hohem Maße. Heinrich der Löwe und Hermann von Thüringen z.B. besorgen „ihren“ Autoren (dem Pfaffen Konrad und Wolfram von Eschenbach) die französischen Vorlagen für das Rolandslied und den Willehalm, die dann deutschen Verhältnissen angepasst werden.
Dichter werden namentlich bekannt, zunächst bei den trouvères, dann bei den Autoren der Ritterromane, was sich im Verlauf der Gotik bei Baumeistern und Schöpfern von Plastik und am Ende auch von Malerei fortsetzen wird. Das, was wir in der Neuzeit Kunst nennen, deutet sich ansatzweise an und damit die Prominenz von Künstlern. Sie werden zunehmend integriert in einen Markt, eine Warenwelt, konkurrieren miteinander und werden bald danach trachten, in Geld bezahlt zu werden. (Zu Ritterromanen ausführlicher Anhang 32)
***Mode und Stil***
Das lateinische 12./13 Jahrhundert erfindet die Kleidermoden und überhaupt die Mode als Aspekt eines neuartigen Konsumbetriebes. Im nachherein werden solche Moden bis hin zum Rokoko als "Stile" bezeichnet werden
Das französische Wort mode kommt erst am Ende des Mittelalters auf, und à la mode kann jemand erst im 16. Jahrhundert sein, als das Wort auch bald ins Deutsche übernommen wird. Vom lateinischen modus, also der Art und Weise von etwas, abgeleitet, ergänzt es zunächst die hochmittelalterliche manière, vom lateinischen manus, Hand, also die Handhabung von etwas. Vor allem im Plural auch die Verhaltensformen, Manieren bezeichnend, gelangt es mit den "französischen" Schreibmoden der Liebeslyrik und des Heldenliedes, der "französischen" Baumode (der Gotik) und der neuen "französischen" Kleidermode mit einer Verspätung von fünfzig bis hundert Jahren in die deutschen Lande, vor allem in jene, die an das kapetingische und burgundische Königreich sowie die nordöstlichen Grafschaften romanischer Sprache angrenzen.
Da der lateinische stilus das Schreibgerät war, meint "Stil" im späteren italienischen Mittelalter den Schreibstil, wie er im Ausdruck dolce stil nuovo wohl zum ersten Mal auftritt, als Dante damit die norditalienische Variante der neuen Liebeslyrik bezeichnet. Der im Zentrum Franciens im 12. Jahrhundert entwickelte neue Baustil (der damals nicht so heißt) gilt lange als der "fränkische" bzw. später "französische", und wird erst in der sogenannten Renaissance (von Vasari) verächtlich als "gotisch" abgewertet.
Die Entfaltung von Kapitalismus bedarf auch eines sich immer weiter entfaltenden Luxus-Konsums, dessen Motor die Mode als wichtiges Mittel zur Steigerung von Nachfrage und Warenkonsum wird. Die Herrscher, Fürsten und hoher Adel konkurrieren nicht nur um Macht als Ausweitung und intensivere Durchdringung ihrer Territorien, sondern auch um Status mittels immer mehr Prächtigkeit ihrer Höfe. Dabei unterwerfen sie sich wie auch die Kirche dem höheren Status größerer Pracht anderweitig.
Auffällig ist, wie dabei Kleidermoden, solche von Skulpturen, Malerei, Bauten, Musik und Tänzen miteinander zu korrellieren beginnen, um dann von Vertretern des Großkapitals bis in den Bau ihrer Häuser übernommen zu werden.
Warum ist der seit dem 11. Jahrhundert zunehmende Stilwandel im sich in einen frühen Kapitalismus hinbewegenden lateinischen Abendland mit seinen darin enthaltenden Moden so viel schneller als anderswo? Die Antwort kann nur in jenen Bewegungen liegen, die Kapital auslöst und die es befördern.
Da ist einmal die Tendenz zu technischer Innovation, die ein Schneider-Handwerk hervorbringt, oder z.B. die Stabilität hoher, lichtdurchbrochener Wandpartien gotischer Kirchen. Da ist zum zweiten die Tatsache, dass Kapital nur durch Wachstum überlebt, und das dieses bis heute ohne innovativen Waren-Ausstoß nicht funktioniert. Und da ist drittens als anthropologische Konstante die Faszination des Neuen mit seiner Menschen wohl innewohnenden Neugier, die erst ihre Talente befriedigen können, und die im Zuge einer den ganzen Kapitalismus bis heute durchziehenden zunehmenden Infantilisierung der Menschen vom frühen Warenkonsum bis zum heutigen Konsumismus führen.
Was als schön gilt, unterliegt einmal anthropologischen Konstanten und darüber hinaus den Moden. Ästhetisierung trennt dabei das Nützliche vom Schönen. Das deutlichste Beispiel ist das Schön-Finden kräftigerer, gesunder Frauen bis gegen Ende der sogenannten Romanik, und dann in der Gotik die Bewunderung für immer schlankere Frauen, die deutlicher zum männlichen Sexualobjekt jenseits der Produktion von Nachkommenschaft werden, - was Frauen offenbar gerne übernehmen. Weibliche Bekleidung kalkuliert seitdem immer offensiver männliches Begehren und resultierende weibliche Konkurrenz ein.
Der sich entfaltende Kapitalismus verändert die Menschen und hält sie immer fester in seinem Griff.
Kirche und Christentum
***Ergebnisse der Reform***
Die große Bewegung der Kirchenreform hatte die Machtfrage zwischen Papst-Kirche und Königen gestellt und erreicht, dass Kirche sich als Partner der Mächtigen in gewissem Sinne ein wenig verselbständigt. Das Ergebnis dürfte aber dann nicht dem entsprochen haben, was sich die großen Reformer vorgestellt hatten: In deutschen Landen werden Bischöfe mehr noch als zuvor zu Fürsten sehr weltlicher Art, und mehrere steigen bald als Kurfürsten in den obersten Rang auf.
Mit den Formelkompromissen für Frankreich und England ändert sich nicht, dass das Episkopat weiter in die königliche Machtpolitik eingebunden bleibt und oft auch Könige sich ihre Bischöfe weiter aussuchen, gelegentlich im Einvernehmen mit päpstlicher Machtpolitik.
Wird den hohen Prälaten im entstehenden Frankreich auch nicht fürstliche Macht wie in deutschen Landen zugestanden, so bemühen sie sich doch um fürstliche Lebensformen. Und in England sind Bischöfe weiter große Barone mit entsprechender weltlicher Macht. Dabei lässt sich bereits im 12. Jahrhundert von dem Weg in eine Art Ausprägung von "National"kirchen sprechen, mit ihren jeweiligen Besonderheiten und ihren Verwicklungen in das weltliche Machtgeschehen.
Die wirtschaftliche Basis dieser Bischofskirchen bleibt riesiger Großgrundbesitz, auf dem mittels bäuerlicher Arbeit Gewinne gezogen werden, bleiben Rechte, die Geldeinnahmen mit sich bringen, und bleibt der Zehnte, den die mehr oder weniger Gläubigen wie selbstverständlich als Zwangsmitglieder in der Kirche erbringen müssen.
Mit der Kirchenreform ist aber doch eine gewisse Zäsur verbunden, die die frühmittelalterliche, in weltliche Mächte eingebundene Episkopalkirche von der nunmehr autonomen Papstkirche trennt, in welcher der Bischof von Rom als Papst wenigstens de iure wie ein fast unumschränkter Machthaber als Monarch über seine klerikalen Amtsinhaber herrscht, um dann 1095 in Clermont als Führer der lateinischen Christenheit auftreten zu können.
Gewählt vom neuartigen Kardinalskollegium wird er aber zugleich immer mehr weltlicher Fürst in seinem Staat, so wie bald die deutschen Erzbischöfe in ihren Fürstentümern nördlich der Alpen.
Er wird zu einem mit Fürsten, Königen und Kaisern konkurrierenden Herrscher über ein italienisches Staatswesen, das Päpste aus der Abhängigkeit von kaiserlichen und normannischen Schutzmächten lösen soll und doch im Konzert der immer mächtiger auftretenden Reiche nicht anders kann, als sich an eine Macht anzulehnen. Diese ist dann das immer mehr in Konkurrenz zu Deutschland auftretende französische Königtum. In den Allianzen mit ihm und den in Italien sich entwickelnden Despotien schwinden die Ergebnisse der Kirchenreform insofern hin, als es zu einer weiteren massiven Verweltlichung der Kirche kommt, die ihre spirituelle Glaubwürdigkeit immer mehr schmälert. Auch dadurch wird es zu jenen Wellen von Häresien kommen, die nun zum Teil ganz aus der Kirche ausscheren.
Die klarsichtigste Kritik von Seiten der Kirchenreformer fomuliert der bayrische Regularkanoniker Gerhoch von Reichersberg. Peter Classen fasst seine diesbezügliche Position so zusammen: "Die Regalien der Kirche binden die Geistlichen, besonders die Bischöfe, an die Welt und hindern sie an den spirituellen Aufgaben; die Bindung der Kirche an die Welt kommt vor allem im hominium zum Ausdruck. Mit der Preisgabe der Investitur durch Heinrich V. hat die Kirche in Worms nur die halbe Freiheit gewonnen; denn (...) Bischöfe, Äbte, Äbtissinnen werden nach der Wahl gezwungen, an den Königshof zu kommen, um Regalien zu empfangen, wofür sie hominium und Fidelitätseid zu leisten haben." (nach 'De aedificio Dei', in: Investiturstreit, S.428)
Die Verpflichtungen, die geistliche Herren so gegenüber dem König eingehen, können sie nur leisten, wenn sie selbst stärker Lehnsherren werden. Damit gelangen sie zu einem fürstlichen Leben statt einem in christlicher Armut, und müssen Kirchengut an Krieger ausgeben, anstatt dem Frieden zu dienen,
Mit dem Teil-Verlust ihrer quasi-sakralen Stellung verlieren die Kaiser die enge Verbundenheit mit dem Papsttum, welches in dem aufstrebenden französischen Königtum neue Verbündete findet. In den Kämpfen um die italienischen Einkünfte entwickelt sich zwischen Staufern und mit norditalienischen Städten verbündeten Päpsten ein erbitterter Machtkampf, in dem die letzten Staufer untergehen werden. (*2)
Die zersplitternden deutschen Lande geraten machtpolitisch an den Rand des Geschehens, während die Städte in ihnen zu wirtschaftlicher Bedeutung aufsteigen. Wichtige Mächte im europäischen Kontext werden nun England, Frankreich und das Normannenreich in Sizilien und Süditalien, in denen Könige versuchen, "ihre" Kirche für ihre Zwecke einzuspannen, was immer wieder auch wie in England zu Machtkonflikten führt.
Die große Kirchenreform übersteht das französische Königtum relativ ungeschoren, nutzt davon das wenige, das es gebrauchen kann und kontrolliert die Kirche des Reiches in dem Maße, in dem es dieses erweitert. Im Bund mit dem Papst werden die Katharer vernichtet und Südgallien so einverleibt und in weltlicher wie kirchlicher Hinsicht unter königliche Kontrolle gebracht. Äbte und (Erz)Bischöfe werden in die Regierungsarbeit integriert.
Das alles ist deshalb für unser Leitthema wichtig, weil in dieser Zeit erst Küsten- und dann auch Binnenstädte Italiens zu neuer Bedeutung aufsteigen, und dann auch solche am Rhein und in Flandern. Den Ansprüchen des Reform-Klerus an sich selbst steht so nicht nur ein Kriegertum, sondern auch eine Welt der Geschäftemacherei, des „Wuchers“ und einer neuartigen, „bürgerlich“ werdenden Besitzgier gegenüber. Abschließung des Klerus und Kompartmentalisierung von geistlichen und weltlichen Sphären bei den Laien werden so gefördert werden.
Anders gesagt: Der von den Reformern wenigstens de iure durchgesetzte Anspruch an mehr Heiligkeit macht diese für Laien uneinlösbarer, rückt sie in weitere Ferne für Krieger wie für Geschäftsleute. Andererseits bedarf der höhere Klerus der Unterstützung durch die Waffen wie durch die Geschäftemacherei, zumindest zum Schutz, zum prachtvollen Lobe Gottes wie für eine gehobene Lebenshaltung. Für die Kirche führt das zu Kompromissen mit der weltlichen Macht. Dazu kommt dann ein stetes Zurückweichen in der Definition des Wuchers, der ursprünglich kirchlich gesehen den Kern eines „Geschäftes“ ausmachte.
Indem nun die materielle Basis des Klerus von ihrem geistlichen Auftrag getrennt wird, er einerseits Königen, andererseits Päpsten untersteht, wird ein Modell entwickelt, welches das frühe Handelskapital analog zu seinem eigenen machen kann: Da ist die Welt der Kirche, in der ist man mehr oder weniger im neuen bürgerlichen Sinne fromm, folgt ihren Zeremonien und Ritualen, und da ist die Welt des Geschäftes, die ihren eigenen, ganz anderen Gesetzen gehorcht.
Das heißt nichts anderes als die Abkoppelung des Geschäftes von religiös definierten Normen. Da die Geschäftswelt aber nicht ohne ein eigenes Regelwerk auskommt, wird sie dieses im wesentlichen nach eigenen Bedürfnissen entwickeln und von der sich davon abtrennenden Welt der Herren bestätigen lassen. Und mit den drei derart nun (nicht allerdings theoretisch durchdachten) getrennten Sphären von Kirche, (Macht)Politik und Geschäft wird nach und nach Kapitalismus möglich.
Verweltlichung der Kirche heißt insbesondere in deutschen Landen vor allem, dass aus Äbten und Bischöfen, deren riesige Besitzungen nie ernstlich zur Debatte stehen konnten, mächtige Prälaten werden, deren mächtigste als Fürsten herrschen. Dabei stellen Bischöfe weiter die meisten Kontingente kaiserlicher Heere und sind so Militärführer von erstrangiger Bedeutung. In ihren prächtigen und kostspieligen Gewändern (Seide, Pelze usw.) erscheinen sie ohnehin wie (und als) weltliche Herren.
Für deutsche Fürstbischöfe des 12. Jahrhunderts bleibt ihr Gott weiter vor allem ein Kriegsgott, der ihnen in ihren kriegerischen Operationen zum Sieg verhilft. Erzbischof Christian von Mainz führt 1172 eine marodierende Horde brabanzonischer Söldner durch Italien bis in die Toskana. "Im Kampf vor Bologna saß er gepanzert im blauvioletten Waffenrock zu Pferd, trug einen vergoldeten Helm und schwang in beiden Händen eine dreiknotige Keule, mit der er neun Männer getötet haben soll. Der junge Albert von Stade erfuhr das vom Leiter der Bremer Domschule, der damals als Notar Christians auch mit angesehen haben will, wie der Erzbischof achtundzwanzig italienischen Edelleuten eigenhändig die Zähne einschlug." (EhlersHeinrich, S.328)
Einne ganz besonders brutalen Vernichtungsfeldzug führt Erzbischof Philipp von Heinsberg wenige Jahre später gegen Heinrich ("den Löwen"), in dem weder Städte, Kirchen noch Klöster vor der Zerstörung verschont werden, und nicht einmal Nonnen der Verschleppung und Vergewaltigung entgehen. (*3)
Es entsteht so aber auch eine massive Aufspaltung des kirchlichen Christentums in ein höfisch-aristokratisches, welches sich nördlich der Alpen immer mehr aus der neuen städtischen Lebenswirklichkeit zurückzieht, in ein bürgerliches, welches in den Städten als Form der Christianisierung von Handwerk und Kapitalismus auch für mehrere Jahrhunderte die Oberhand gewinnt, und ein ländlich-bäuerliches, in dem es weiter als theologisch abwegige Folklore mit weiterhin ungeniert heidnischen Zügen auftritt, die erst im 19./20. Jahrhundert mit der massiv zunehmenden Zerstörung bäuerlicher Landwirtschaft schwindet.
Diese auf den Papst zentrierte Kirche hat nur ihre weltliche wie geistliche Machtvollkommenheit gesteigert, und diese hat zunehmende weitere Verweltlichung im 12. und 13. Jahrhundert zur Folge. Höhere Geistliche halten sich an ihre Pfründe, die Dotierung ihres Amtes, überlassen die Seelsorge aber oft niederen Geistlichen bei spärlicher Bezahlung. Kirchenämter werden schiere Einkommensquellen, was manchmal andere Formen von Simonie ergänzen kann. Die Einlösung von an Päpste und Prälaten gerichtete Begehren muss bezahlt werden. (*4) Das Zölibat wird weiter nur insofern langsam durchgesetzt, als Geistliche sich nicht mehr formell verehelichen, sondern oft zu Formen des Konkubinats und in höheren Kreisen zum Mätressentum übergehen. (*5) Auch das gemeinsame (kanonische) Zusammenleben des Domklerus stößt weiter auf erhebliche Widerstände. (*6)
Die Lesekunst der ländlichen Priester steigt nur allmählich, und viele müssen weiter die zehn Gebote, den Text der Messe, die Namen der sieben Sakramente und die Formeln für die Beichte auswendig im Kopf behalten, da sie sie nicht nachlesen können.
1148 verbietet ein Konzil in Reims allen Klerikern das Tragen von buntem Pelzwerk und hochgeschlitzter Kleidung, was offenbar weiterhin stattfindet. (in: Laudage/Leiverkus, S.14)
Wenn man den Bestimmungen des vierten Laterankonzils von 1215 folgt, sind viele Priester weiter verheiratet oder leben im förmlichen Konkubinat, vererben ihre Pfarreien und sind dem Würfelspiel, dem Besuch auch verrufener Tavernen und anderem weltlichem Amüsement ergeben. Das Laterankonzil verbietet den Klerikern auch wieder einmal, allzu bunte oder zu modisch geschnittene Kleidung zu tragen.
Es ergibt sich zudem der Eindruck, dass die weitere Christianisierung einer religiös überwiegend uninformierten Bevölkerung nur schleppend vorangeht. Immerhin wird versucht, die Leute wenigstens einmal im Jahr zur Beichte und zur Kommunion (des leibhaftig gemeinten Verspeisens des Leibes und Blutes Christi) zu verpflichten.
Entsprechend steigert sich wohl die oft wenig öffentliche Kritik an Geistlichkeit und Mönchtum. Eine neue christliche Armutsbewegung entsteht, die nicht mehr auf einzelne Personen konzentriert ist. Sie ist, anders als früher, ein deutlicher Reflex auf die Entstehung der neuen, bürgerlichen Städte und des Kapitalismus. Ihr Interesse richtet sich nun stärker auf den evangelischen Jesus, der bislang zugunsten des alttestamentarischen Gottes etwas in den Hintergrund getreten war.
Innerkirchliche Exponenten dieser Bewegung werden in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts Theologen wie der in Paris an Notre Dame als Kantor arbeitende Petrus. Dessen Schüler werden dann "theologisch hoch gebildete Prediker wie Fulko von Neuilly, Johannes von Nivelles, Jakob von Vitry und andere (…) für ihre Zuhörerschaft durch lebensnahe Ansprache und moralisch untadelige Lebensweise zu Lehrmeistern einer von Gebet, Askese, Buße und evangelischer Armut bestimmten Existenz." (C. Andenna in 'Verwandlungen', S.252). Auch Innozenz III. ist Schüler dieses Petrus Cantor und wird sich sehr um die Integration von Armutsbewegung in die Kirche bemühen.
***Glauben und häretische Frömmigkeit***
Das deutsche fromm ist ein germanisches Konzept, welches im Verlauf des deutschen Mittelalters einen massiven Bedeutungswandel von nützlich über tüchtig zu rechtschaffen und dann vor allem in der sogenannten Neuzeit zu spezifisch religiös rechtschaffen durchmacht. Die verschiedenen Bedeutungen bleiben aber derweil gelegentlich auch weiter nebeneinander bestehen.
Deutlich ist so, dass der Frömmigkeit im religiösen Sinne von Haus aus der Aspekt der Innerlichkeit fehlt, der erst noch durch Gefühlsintensität aufgeladen werden kann wie bei den Mystikern. Für die meisten mittelalterlichen Menschen bedeutet religiöse Frömmigkeit wohl weiter dreierlei: Zum einen pflichtschuldigst das zu glauben, was einem von der Kirche zu glauben vorgeschrieben wird oder zumindest so zu tun als ob, und des weitere an Pflichtveranstaltungen der Kirche teilzunehmen, ganz gleich, was man im Stillen gerade glauben mag. Schließlich gehört für viele dazu, sich ab einem gewissen Alter Sorgen zu machen über das Maß der Folterqualen in Fegefeuer bzw. Hölle.
Was die allermeisten Menschen tatsächlich glauben, bleibt auch jetzt noch unbekannt. Wie in der offiziellen Kirche vermischen sich magische Komponenten mit rationalem Handeln, und dazu gehören auch Elemente vorchristlichen Glaubens bis in regionale und lokale Volksbräuche hinein.
Theologie bleibt die Sache von wenigen Leuten und hat oft nicht viel mit dem zu tun, was Priester praktizieren und verkünden. Dämonenglauben und der an außerkirchliche Magie bleiben vor allem auf dem Lande erhalten, und selbst ein Bernhard von Clairvaux hält Amulette im Krankheitsfall für nützlich. Bauern glauben schon mal, dass das Aufrichten einer Priapusstatue der Fruchtbarkeit ihrer Tiere gut tut, und Zauber dient menschlicher Fruchtbarkeit, dem sexuellen Begehren von Mann und Frau, was kaum angezweifelt wird, weswegen es besonders verboten ist. Zauberei fasziniert Bischöfe wie auch an weltlichen Höfen, wie man lesen kann. Manche Zaubersprüche sind überliefert. Nur in Einzelfällen werden Zauberinnen (Hexen) schon verbrannt.
Immerhin spielt Magie auch in der offiziellen Kirche so wie bei den Wundern, die von Heiligen ausgehen, eine große Rolle. Es wird offiziell behauptet, dass Gott dabei unmittelbar im Spiel sei, was aber für die Heiligenverehrung der meisten Menschen kaum eine Rolle spielen dürfte.
Geradezu Wahnvorstellungen (z.B. sogenannte Visionen) können zudem durch Meditationsformen, Formen von Askese oder wohl auch halluzinogene Stoffe hervorgerufen werden und zu frommen Texten führen. Gelegentlich werden auch Traum und Wirklichkeit verwechselt.
Weiterhin begründet sich jeweils aktuelles Christentum aus dem jüdischen wie dem christlichen Teil der Bibel, mögen sie auch noch so gegensätzlich sein. (*7) Aber die meisten, noch mehr oder weniger illiteraten Menschen bekommen davon bestenfalls "biblische Geschichten", illustriert in Fresken und plastischen Werken, und wenige kirchliche Sätze mit, in denen sie ihren Glauben bekennen sollen. Das In-Szene-Setzen biblischer Geschichten setzt zunächst in Kirchen ein. (*8)
Von oben sickert langsam eine stärkere Marienverehrung in die Städte ein, welche zusammen mit Heiligenkult nicht nur eine stärkere weibliche Komponente einbringt, sondern auch die Gefühlsintensität ein wenig in eine gewisse Innigkeit hinein zu steigern vermag.
Noch gibt es keinen "lieben Gott"", aber bei Bernhard von Clairvaux einen "süßen" Jesus, mit dem er eine imaginierte und erotisierte Liebesbeziehung eingeht. Indem das teils aus apokryphen Texten gewonnene Leben Jesu in Text und Bild "rekonstruiert" wird, tritt er als Mensch stärker in den Mittelpunkt.
Persönlicher und darum manchmal auch von der Kirche als bedrohlich angesehen wird eine sich erst in den nächsten Jahrhunderten stärker entfaltende Neigung zur Mystik, von mystikos, geheimnisvoll, und damit zu einer individuelleren Gottesschau.
Wie weit Wallfahrten und Reliquienkult, die beide nun weiter zunehmen, mit Frömmigkeit und wie weit mit Abenteuerlust bzw. Geschäftssinn zu tun haben, lässt sich schwerlich nur abschätzen. Beide dienen aber dem Aufstieg von Städten und ihrer Bereicherung. (*9)
Zur Trennung zwischen gelehrter Theologie und dem, was fast alle mehr oder weniger glauben, vertieft sich der Graben zwischen Alltags-Wirklichkeit und Festtags-Religion, das, was hier als in den Köpfen stattfindende Abschachtelung als Kompartmentalisierung benannt werden soll: Gewalttätige und nach Macht und Reichtum gierende Krieger absolvieren sich von ihrem unchristlichen Verhalten durch Stiftungen, Spenden, also fromme Werke. Kapitaleigner auf dem Weg zu Reichtum tun es ihnen bald gleich, und die Handwerkerschaft schließt sich in an Kirche und Kloster angelehnten Bruderschaften zusammen und entwickelt aus ihrem Wirtschaften hervorgehende Vorstellungen von Rechtschaffenheit, die sie für religiös begründet halten und auch so inszenieren. (*10)
Mit allgemeiner Geld- und Warenwirtschaft nimmt einmal der Wunsch nach einer berechenbaren Welt zu, damit auch einer, in dem das Aushandeln von Sünde und Strafe auf einer Art Markt stattfindet, auf den sich nun der Christengott einlässt.
Theologisch ausgearbeitet findet sich diese Vorstellung später bei Thomas von Aquin, und etwas weiter popularisiert wird sie mit Dantes 'Göttlicher Komödie'.
Zu einem marktgerechten Geben und Nehmen mit Gott gerät aber auch die sich durchsetzende Vorstellung von einem Reinigungsort, der einem die Hölle ersparen kann, und der sich mit Gaben an Kirche und Kloster beschleunigen lässt.
Schon bei Augustinus gibt es die Vorstellung, dass einige Sünder in einer Art Fegefeuer von ihren Sünden gereinigt und so der Hölle am Ende entkommen könnten. Das Wort kommt im 12. Jahrhundert auf, nachdem sich die Christen mit dieser Vorstellung schon länger von ewiger Verdammnis lösen. Das lateinische Purgatorium ist erstmals beim Erzbischof von Tours, Hildebert von Lavardin († 1133) nachweisbar. 1215 taucht es bei Guibert de Nogent auf:
Qua ex re mira Dei dispensatione fiebat, ut creberrimis ei visionibus, quos ille dolores in sua purgatione ferebat, patientissimis imaginationibus monstrarentur. (De vita sua, I,18) Hier kann seine Mutter in einer Vision seinen toten Vater in einem tiefen Brunnen leiden sehen und herausfinden, dass sie ihn mit gewissen Leistungen unterstützen kann auf seinem Leidensweg.
Da der kirchlich vorgegebene Glaube Pflicht ist, wird nur an wenigen Quellenstellen deutlich, dass es auch Unglauben an einzelnen mysteriösen Aspekten der Religion oder gar komplette Ungläubigkeit gibt, von der man nur vermuten kann, dass so etwas weiter verbreitet ist als dokumentiert. (*11)
Auf der anderen Seite, aber davon durch partiellen Unglauben nicht ganz getrennt, entwickeln schwer zu beziffernde, meist kleine Gruppen insbesondere in den Städten regional unterschiedlich gegen die Verweltlichung, den Machthunger der Kirche und ihre alttestamentarische Überformung gerichtete neutestamentarische Vorstellungen eines die magischen Sakramente und die kirchliche Hierarchie ablehnenden evangelischen Christentums. Sie werden kirchlich verurteilt und umgebracht oder vom örtlichen Pöbel verbrannt, ebenso, wie es wohl auch dem armen Jesus der Evangelien selbst unter den Kirchenfürsten gegangen wäre.
In Norditalien und Südgallien, de facto noch kein Teil des französischen Königreiches, überleben solche Leute, die als Arme Christi, Apostel oder Katharer bezeichnet werden, und sie gewinnen eine stattliche Anhängerschaft. Bei ihnen gerät die evangelische Vorstellung einer vom Teufel beherrschten und massiv erlösungsbedürftigen Welt ins Zentrum, der mit der Heiligkeit in etwa im Sinne der frühen jesuanischen Apostelgemeinschaft begegnet werden soll. Um diese Auserwählten schart sich in Abstufung eine große Schar von Anhängern, die ohne römische Kirche durch sündenfreieres Leben zum "Heil" gelangen wollen. (ausführlicher in Anhang 29)
Zisterziensische Prediger schaffen es nicht, die "Ketzer" zurück zu gewinnen, so wenig wie solche vom dafür geschaffenen Orden der Dominikaner. Erst marodierende und mordende nordfranzösische Ritterheere unter dem Bündnis von Papstkirche und französischem König werden das langsam und dann auch mit Hilfe der nun dafür eingesetzten Inquisition mit ihren Folter-Werkzeugen erreichen. Mit der brutalen Eroberung der recht selbständigen okzitanischen Zivilisation durch den König findet dann auch ihre Vernichtung als Integration in das Königreich statt.
Eine weitere größere Bewegung stellt die von dem Lyoner Bürger Petrus Waldes um 1170 gegründete dar, die auf evangelischem Fundament Lektüre der Bibel in der Volkssprache, Laienpredigertum auch von Frauen und Abkehr von allgegenwärtiger Geldgier fordert. Der mörderischen Verfolgung durch die Kirche kann ein Teil ihrer Mitglieder in weniger zugängliche Berg-Gegenden vor allem von Savoyen entkommen.
Wie andere evangelische Bewegungen der Zeit konzentrieren sich die vor allem aus Handwerkern bestehenden Humiliaten ganz auf das Neue Testament, lehnen Eide ab und pflegen die Laienpredigt. Sie teilen sich in Laien, die in ihren Familien und deren Häusern wohnen, Regulare, die in nach Geschlechtern getrennten Gemeinschaften leben, sowie in gemeinschaftlich lebende Kleriker (C.Ardenna in 'Verwandlungen', S.247). Auch sie werden von der Kirche verboten, bis sich ein Teil von ihnen dann wie die Franziskaner als Orden in die Kirche eingliedert, wobei das Laienpredigertum stark eingeschränkt wird.
Im 12./13. Jahrhundert bilden sich Gruppen von Frauen, die später Beginen genannt werden, und die freiwillige Armut mit Arbeiten wie Nähen, Spinnen und Weben und mit karitativen Werken wie Krankenpflege und Sterbebegleitung verbinden. In Oignies (Lüttich) unterstützt Jakob von Vitry, nomineller Bischof von Akkon, eine Frauengemeinschaft zwischen Kontemplation und karitativen Werken. Seit 1238 gibt es in Erfurt Beginen, von denen Nikolaus von Bibra schreibt: Sunt ibi Begine quarum numerus sine fine (...) Sic nocte dieque laborant. (Occultus Erfordiensis in: Mägdefrau, S.19) Es gibt also unzählige von ihnen, die Tag und Nacht arbeiten.
(Armutsbewegungen ausführlicher in Anhang 29)
***Zisterzienser***
Ein Teil der benediktinischen Klöster entwickelt einen gewissen Wohlstand, der sich oft mehr in Macht und Prächtigkeit als in klösterliche Strenge umsetzt. 1098 zieht ein Mönch Robert deshalb aus seinem Kloster aus und gründet mit Citeaux ein strenges Reformkloster, welches bald Nachahmer findet. Gesiedelt wird in deutlicher Entfernung von Städten, und über Stiftungen kommen die Klöster bald zu erheblichem Landbesitz, auch zum Nachteil dort lebender Bauern.
Unter Abt Harding geben sie sich vor 1119 mit einer 'Carta' eine Art Grundgesetz:
Die Mönche unseres Ordens müssen von ihrer Hände Arbeit, Ackerbau und Viehzucht leben. Daher dürfen wir zum eigenen Gebrauch besitzen: Gewässer, Wälder, Weinberge, Wiesen, Äcker, abseits von Siedlungen der Weltleute, sowie Tiere, ausgenommen solche, die mehr aus Kuriosität und Eitelkeit als des Nutzens wegen gehalten werden, wie Kraniche, Hirsche und dergleichen. Zur Bewirtschaftung können wir nahe oder ferne beim Kloster Höfe haben, die von Konversen beaufsichtigt und verwaltet werden. Den Besitz von Kirchen, Altären, Begräbnissen, Zehnten aus fremder Arbeit und Nahrung, Dörfer, Hörige, Bezüge von Ländereien, Backhäusern, Mühlen und ähnliches, was dem lauteren Mönchsberuf entgegenstrebt, verwehrt unser Name und die Verfassung des Ordens. (so in: DMeier, S.121)
Damit tritt ein wesentlich von Adeligen gegründeter Mönchsorden zum ersten Mal aus feudalen Strukturen heraus. Nach einer frühen Gründungsphase nimmt die körperliche Arbeit der Mönche zunehmend ab und wird durch die der Konversen, minderen Mönchen am Rande der frommen Gemeinschaft, ersetzt, unter denen sich zum Beispiel nicht mehr erfolgreich wirtschaftende Bauern oder überzählige Bauernsöhne finden.
Auf die Dauer können Klöster mehr Konverse als Mönche haben. Schließlich aber werden Wirtschaftshöfe, Grangien, sogar von Konversen geleitet, die mehr Fähigkeiten besitzen. Diese großen Höfe produzieren ihre Erzeugnisse für den lokalen Markt der nahen Städte und setzen sie zudem über die nun aufkommenden Stadthöfe der Klöster ab.
Zusätzlich stellen die Mönche auch Lohnarbeiter ein und nutzen die freie Arbeit von „Gästen“. Lohnarbeiter werden bei ihnen als eigenständige Gruppe nun auch so genannt und treten damit zum ersten Mal auch auf dem Lande ins dokumentierte Blickfeld.
Noch ein anderer Aspekt macht aus Zisterzienser-Klöstern langsam auf Gewinn orientierte frühkapitalistische Unternehmen: 1112 tritt Bernhard (von Clairvaux) mit einer ganzen Gruppe von Verwandten und Freunden in Citeaux ein und prägt seitdem den Orden maßgeblich. Gegen die wohlgeschmückte Prächtigkeit benediktinischer Klöster seiner Zeit setzt er jene Einfachheit zisterziensischer Klöster und insbesondere Klosterkirchen, die allen kunstvollen Dekor ablehnt. Was so eingespart werden kann, wird wirtschaftlich investiert und hilft mit, den Orden zu einer Wirtschaftsmacht zu machen. (ausführlicher in *12)
***Franziskaner und Dominikaner***
Der Aufstieg der Städte, der Geldwirtschaft und die zunehmende Kommerzialisierung fallen zunächst mit dem der Zisterzienser zusammen. Im folgenden Jahrhundert
wendet sich dann der Francesco von Assisi mit aller Deutlichkeit dagegen. Er verlässt das Elternhaus seines Vaters, der erfolgreicher Händler ist, nimmt sich den evangelisch vermittelten Menschen
Jesus zum Vorbild und folgt ihm mit den Idealen der Eigentumslosigkeit und Friedfertigkeit nach. Der Kaufmannssohn lehnt die triumphierende Geldwirtschaft ab, seine Brüder sollen arbeiten, aber
nur für die Subsistenz und nicht für Gelderwerb. Auch als Almosen sollen sie nicht Geld, sondern Naturalien annehmen.
Er sucht auf dem Lande bei Assisi zunächst die Einsamkeit, findet aber dann bald Mitstreiter und kann es auf die Dauer nicht vermeiden, sein jesuanisches Ideal in einer Art wachsender Bruderschaft aufgehoben zu sehen. Um das Predigertum der neuen Gemeinschaft zu sichern, und weil er keine Kirchenkritik üben möchte, kann das Papsttum ihm in mehreren Schritten eine Ordensregel auferlegen, in der bereits ansatzweise eine Verfälschung seiner Ideale enthalten ist.
Während Francesco sich von solcher Entwicklung stärker zurückzieht, entwickelt sich ein neuer Großorden, der das ganze lateinische Abendland überzieht und als erster Orden ganz in Städten angesiedelt ist. Das Betteln der Mönche wird bald durch Schenkungen ergänzt, die Ordensklöster schnell zu mächtigen Eigentümern mit großen Kirchengebäuden machen, wobei sich letztere allerdings durch Einfachheit auszeichnen. Dabei werden sie zu Konkurrenten der kirchlichen Priester nicht zuletzt auch im Bereich des Spendenwesens. Noch radikaler als die Zisterzienser jenseits von feudalen Strukturen in den Städten angesiedelt, sind sie besonders von den Spenden des wachsenden Kapitals abhängig, weshalb sie eine bedeutende Rolle für dessen wachsende Rechtfertigung einnehmen.
An die Stelle der jesuanischen, vom hl. Franz gepredigten Ablehnung von Gelehrsamkeit tritt bald die Tatsache, dass sie schnell auch in Universitäten einziehen, und ein in die Machtpolitik eingreifender Faktor werden.
Der nordspanische Geistliche Dominikus aus einer kastilischen Adelsfamilie gehört im Gefolge seines Bischofs von Osma zunächst zum eher der Meditation zuneigenden Teil der Kirche. In der Begegnung mit den einflussreichen Katharern entschließt er sich, deren Missionar zu werden, und, anders als es bisher üblich war, ihnen mit einfachem Auftreten und mit theologischen Argumenten entgegen zu treten. Daraus entwickelt sich - soweit ähnlich wie bei den Franziskanern - ein eigentumsloser Bettelorden, der aber von vorneherein als spezifischer Predigerorden viel Wert auf Belesenheit legt, weswegen Dominikaner der Schulung in kirchenkorrektem Christentum große Bedeutung beimessen, und dann bald mit den Franziskanern an den hohen Schulen konkurrieren. Ähnlich wie die Franziskaner schnell im ganzen Abendland vertreten, prägen sie mit ihnen überall das Bild der Städte der lateinischen Welt.
Ihr Streiten gegen die Ketzer bringt ihnen dann nach dem Tod des Ordensgründers die Leitung der "heiligen Inquisition" ein, mit der die Papstkirche Abweichler als Ketzer zu vernichten sucht, nun mit immer brutaleren Mitteln.
***Kirche und Geschäft***
Kirche und Kloster als in vielen Gegenden Europas größte Grundbesitzer und Teil der Herrenwelt lehnen Aspekte des entstehenden Kapitalismus ab, dulden und fördern sie aber zugleich. Im 11. Jahrhundert reagiert die (Papst)Kirche mit ihrem geschärften Selbstbewusstsein auch schärfer auf die sich verbreitende Geldwirtschaft und den sich einnistenden Ansatz für Kapitalismus. Zins- und Wucherverbote samt abwertenden Äußerungen zum Handel werden nun "zusammengetragen und unverändert eingeschärft." (Gilomen, S. 94)
Man muss dabei vor Augen haben, dass zwei der sieben Totsünden, die den Weg ins Himmelreich versperren, laut Kirche die luxuria und die avaritia sind. In der luxuria sind Genusssucht, Verschwendung und (sexuelle) Ausschweifung enthalten, die avaritia verbindet Habgier und Geiz. Die eine ist die gängige Sünde derer, die sich (Waren)Konsum leisten können, die andere die von denen, die nicht genug an Kirche und Kloster, d.h. offiziell die Armen abgeben, und die derer, die Kapitalvermehrung betreiben.
Zumindest der Luxus in diesem weiten Sinne wird spätestens seit dem 12. Jahrhundert auch Päpsten vorgeworfen, und manchmal auch Bischöfen. Dies sind aber dieselben, die zugleich auch dagegen predigen.
Im 10./11. Jahrhundert ist vom gerechten Preis die Rede, und diese Hilflosigkeit, Kapital als Vorgang zu verstehen, wird durch den kirchlichen Umgang mit "Wucher" im 12. Jahrhundert nur langsam etwas geringer. Dabei werden für die Legitimierungsstrategien die rationaleren Argumentationslinien der Scholastik immer wichtiger und sie verbinden sich mit der zweckrationalen Praxis eines Wirtschaftens für und auf einem Markt.
Der offen zur Schau gestellte Luxus der hohen Geistlichkeit, im Widerspruch zur Ablehnung von "Wucher", verschärft Konflikte. Als in derselben Zeit in den Städten des Mittelalters Leute außerhalb der Kirchenämter wieder imstande sind, die evangelischen Texte zu lesen, beginnt ihre Lektüre Häresien hervorzurufen, die sich zum großen Teil als Armutsbewegungen artikulieren.
Zwischen beiden laviert die Kirche im 11./12. Jahrhundert, wobei sie ihr sehr weltlicher Reichtum und die vielen Fäden, die sie mit dem sich einnistenden und dann entfaltenden Kapitalismus verbinden, immer stärker in die Akzeptanz kapitalistischen Gewinnstrebens treibt, auch wenn sich dagegen Kritik in den eigenen Reihen auftut.
Hatte man den Juden aus Eigennutz bislang selbst hohe Zinsen oft stillschweigend gestattet, so setzen nun nicht nur Pogrome gegen sie ein, was auch eine brutale Form der Schuldentilgung für Christen bedeutet, sondern es kommt zur Erlaubnis, Juden für die Finanzierung von Kreuzzügen zu enteignen. Darauf beginnt in England und Frankreich die immer wieder stattfindende Enteignung von Juden auch durch die dortigen Könige, die Ende des 12. bzw. 13. Jahrhunderts in deren Vertreibung endet.
Was man den Juden nicht mehr erlauben will, wird den Finanziers aus Cahors, den Kawertschen der deutschen Sprache, und den Lombarden, also Norditalienern, zwar kirchlicherseits ebenfalls verboten, in der Praxis jedoch sind sie überall zwischen England, Frankreich und den deutschen Landen vertreten, und sie arbeiten für Bischöfe ebenso wie für weltliche Fürsten.
In genau der Zeit immer verschärfterer Wucherverbote und der Judenverfolgung in mehreren Ländern findet aber, und das wird wesentlich tiefgreifender, zugleich eine zunehmende Einschränkung dieser Verbote durch die Bestimmung von immer mehr Fällen erlaubten Gewinnes statt.
"Neben dem Risiko (periculum sortis) und der Ungewissheit (ratio incertitudinis) war dies ein tatsächliche erlittener (damnum emergens) oder ein virtueller, für die Zukunft als möglich gedachter Schaden bzw. entgangener Gewinn (lucrum cessans). Unter dem titulus morae konnte eine Entschädigung für Zahlungsverzug geltend gemacht werden (poena conventualis, interesse). War mit der Ausleihung eine Mühewaltung verbunden, so konnte dafür ein Lohn verlangt werden (stipendium laboris). Außerdem war eine Verzinsung bei Verwendung des Geldes durch Fürsten und Herren zur Prachtentfaltung (ad pompam) erlaubt." (Gilomen, S.95)
Schließlich vertritt der Dominikaner Thomas die Ansicht,
dass der Preis einer Ware durch freien Wettbewerb zustande komme und daher den Ausdruck des freien Willens beider Parteien darstelle. Die Grenze der freien Preisfindung sahen sie in der Regel dort, wo der bezahlte Preis um nicht mehr als die Hälfte vom gerechten Preis (pretium iustum) abweicht. (Ertl, S.160)
Außerdem schreibt er:
Wenn man den Handel mit der Absicht der Gemeinnützigkeit treibt, wenn man verhindern will, dass lebensnotwendige Dinge fehlen, dann wird der Gewinn, anstatt als Zweck betrachtet zu werden, nur als Lohn der Mühen in Anspruch genommen.
Im frühen 13. Jahrhundert schreibt der Bischof und Diplomat in einem Beichthandbuch:
In vielen Ländern würde große Not herrschen, wenn die Kaufleute nicht den Überfluss aus einer Gegend in eine andere Gegend brächten, wo Mangel herrscht. Zurecht erhalten sie den Preis ihrer Arbeit. (in: Ertl, S.197)
Diese vielen Möglichkeiten zur "christlichen" Erlangung eines Gewinns werden dann in der Wirklichkeit des späten Mittelalters das Kreditwesen und den Handel immer weiter vorantreiben.
Wie sich kapitalistisches Denken in die Religion einschleicht, zeigt Bernhard von Clairvauxs Predigt zum zweiten Kreuzzug:
Du tapferer Ritter, du Mann des Krieges, jetzt hast du eine Fehde ohne Gefahr (für das Seelenheil). Bist du ein kluger Kaufmann, ein Mann des Erwerbs in dieser Welt, so sage ich dir einen großen Markt voraus Sieh zu, dass er dir nicht entgeht! Nimm das Zeichen des Kreuzes, und für alles, was du reuigen Herzens beichtest, wirst du mit einem Schlag Anlass erlangen! Die Ware ist billig, wenn man sie kauft; und wenn man fromm für sie bezahlt, ist es ohne Zweifel das Reich Gottes wert. (Epistel 368)
Dennoch: 1127/34 wird das Seedarlehen verboten. (Gilomen). Im zweiten Laterankonzil von 1139 werden Wucherer mit dem Kirchenausschluss und dem Ausschluss vom christlichen Begräbnis bedroht, massiven Diffamierungen also. 1163 wird die Pfandsatzung zur Umgehung des Kreditverbotes verboten. 1179 bestimmt das 3. Laterankonzil:
Nahezu allerorten hat sich das Verbrechen des Wuchers so eingefressen, dass viele ihre anderen Geschäfte liegenlassen und das Zinsgeschäft betreiben, als ob es erlaubt wäre, und sich in keiner Weise darum kümmern, dass es die Heilige Schrift der beiden Testamente verurteilt. Deshalb ordnen wir an, dass offenkundige Wucherer nicht zur Gemeinschaft der Altäre zuzulassen sind. Sterben sie in dieser Sünde, sollen sie kein christliches Begräbnis erhalten; nicht einmal ihre Opfergabe darf man annehmen. (in: Haas, S.108f)
1185/87 wird der Kreditkauf zu erhöhtem Preis mit dem Ziel der Umgehung des Wucherverbotes verboten, Inzwischen werden Wucherverbote auch explizit für Klöster ausgesprochen.
Dabei geht es offensichtlich nur um Kreditgeschäfte. Ansonsten wird hier festgestellt, dass Handel seinen Gewinn als Lohn aus dem Dienst zieht, den der Händler den Menschen leistet. Schließlich hat der Händler auch Auslagen, muss sich mühen und ein Risiko eingehen. Was weiter und noch von Thomas von Aquin beklagt wird, sind sogenannte überhöhte Preise. Aber in der Praxis hat das dann mit dem sogenannten gerechten Preis der christlichen Doktrin des frühen Mittelalters kaum noch etwas zu tun.
Intellektualität: Die ganz kleine Welt der Gelehrsamkeit (siehe Anhang 28)
***Lesen, Schreiben, Rechnen***
Bauern, Handwerker und selbst die meisten Kaufleute lernen nun im Alltag von solchen zivilisatorischen Techniken das, was sie benötigen, und es dürfte sehr wenig gewesen sein. Bei zunehmender Bedeutung von Kathedralschulen mit ihrer städtischen Verankerung nimmt die der Klosterschulen langsam ab, und etwas mehr männliche Jugendliche aus den Kreisen der Reicheren und Mächtigeren erhalten nun Zugang zu Schulbildung, auch wenn diese wesentlich auf zukünftige Geistliche zugeschnitten ist. Dabei hängt die Qualität der Schule und ihr Zulauf an dem Ruf der Lehrenden.
Prägend für die Zukunft der nächsten Jahrhunderte des Mittelalters wird, dass das Lateinische die Sprache aller Fachgebiete ist. Dabei wird das Denken in ihren spezifischen (Sprach)Strukturen eingeübt, die sich aus der antiken Zivilisation entwickelt haben. Es fehlt weiter jedes Nachdenken darüber, dass Sprache nicht nur Medium, sondern auch Inhalt ist.
Für die wenigen, die lesen und schreiben können sollen, ist aus der Antike der Unterricht in dem grundlegenden Trivium aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik übernommen worden, letztlich eine gehobene Unterweisung in der lateinischen Sprache auch anhand antik-römischer Vorbilder. Grammatik betrifft die Lese- und Schreibkunst in lateinischer Sprache, der zunächst noch fast einzigen Schriftsprache und des universalen Kommunikationsmittels im lateinischen Abendland. Die Dialektik als Kunst überzeugender Gesprächsführung und des eigenen Nachdenkens beinhaltet die Elemente einer zwingenden Argumentation und bedarf der Logik, der zwingenden Schlussfolgerungen. Dabei kommt es auch auf zumindest dem Anschein nach klare Begrifflichkeit an. Die Rhetorik wiederum, die sich aus dem antik-griechischen Sprechen vor Gericht entwickelt hatte, ist die Übersetzung von Grammatik und Dialektik in die öffentliche Praxis, als ars dictaminis auch in den kunstvollen Text.
Für noch viel wenigere gibt es dann noch das Quadrivium, welches die Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie umfasst, wobei letztere auch noch die "Astrologie" enthält. Dass die Musik zu dem mehr oder weniger mathematischen „Stoff“ dazugehört, sagt einiges über die Besonderheiten, in denen sich kunstvollere Musik im Abendland bis in den Barock entwickeln wird.
Neben den Schulen gibt es wenige "private" Lateinlehrer für den Nachwuchs derer in der Stadt, die sich so etwas leisten können. Im Verlauf des 12. Jahrhunderts treten in bedeutenderen englischen, französischen und italienischen Städten Gelehrte auf, deren Ruf Studenten von überall her anzieht, die am Stand eines immer mehr argumentierenden Denkens teihaben und vielleicht damit Karriere machen wollen.
Lehrer als Magister sind entweder mit Pfründen versehene kirchliche Angestellte oder aber ein neuartiger freier Beruf neben dem notarius und dem medicus. Damit werden sie Teil eines wesentlich städtischen Marktes, in dem sie nun um Klienten konkurrieren.
***Glaube, Vernunft und Argument***
Einfachste menschliche Verstandestätigkeit unter etwas Nutzung des Gebrauchs der Vernunft ist in der Gehirnstruktur und dann in vielen Sprachen vorgegeben und
bedarf keiner Schulen und Lehrer. Begrenzt wird sie durch Talent und Interesse, die gemessen an den intellektuellen Herausforderungen in Zivilisationen bei den meisten Menschen gering oder nur
sehr spezialisiert vorhanden sind, - selbst wo sie Zeit und Gelegenheit haben.
Solche Verstandestätigkeit geht in das antik-lateinische Wort intellectus ein, welches im Deutschen des ausgehenden 18. Jahrhunderts ohne die Endung auftaucht. Hier soll dies Wort nur das Durchdenken komplexerer Zusammenhänge auch dort benennen, wo diese nicht unmittelbar mit Händen zu greifen sind. Intellekt in diesem Sinne muss also neben Talent und Interesse auch auf Kenntnissen, Übung und möglichst guter Beherrschung von Wortschatz und Grammatik der jeweiligen Sprache beruhen.
Der Weg in erste Vorformen von Wissenschaftlichkeit findet im Rahmen von Kirche und Kloster statt, und er basiert auf kirchlich festgelegten Glaubenssätzen. Aber er geht mit zweierlei einher: Einmal mit einer Kirchenreform, die Konventionen durch Wahrheiten ersetzen möchte und damit implizit zum Disput darüber einlädt, was diese sei, und zum anderen auf Städte, in denen handwerkliche und frühkapitalistische Bürgerlichkeit einen neuen alltäglichen Erfahrungsrahmen liefern, der von Zweckrationalität durchsetzt ist.
Dazu kommt bei der wenigen Gelehrten ein sich erweiterndes Studium aristotelischer Texte, welches auch über die Vermittlung islamischer und jüdischer Gelehrter möglich wird. Damit nimmt die Einübung logischen Denkens in Verbindung mit vernunftgemäßer Argumentation zu. Beides ist Menschen, wie gesagt, mehr oder weniger schon im Rahmen von alltäglicher Problembewältigung zu eigen, soll aber nun durch logische Schulung auch auf religiöse und dann andere alltäglich nicht zugängliche Themen angewendet werden, welche größere Nachdenklichkeit erfordern.
Schon ein Anselm von Canterbury meint in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts ganz im Sinne der antiken Kirche, dass Glaube und Vernunft zusammengeführt werden könnten, was bei ihm in einem (sogenannten) Gottesbeweis gipfelt. Verurteilt wird von der Kirche allerdings, wenn ein Berengar von Tours die Lehre von der Transsubstantiation für vernunftwidrig erklärt.
Etwas vom neuen Denken beschreibt Bischof Otto von Freising einige Generationen später, wenn er über seine Lehrer Alberich von Reims und Robert von Melun schreibt:
Bei allen Themen voller methodischer Zweifel fand der eine überall Anlass zu kritischer Untersuchung. Mochte eine Ebene noch so glatt erscheinen, nie fehlte ihm ein Stein des Anstoßes, und – wie man zu sagen pflegt – nirgends erschien ihm ein Grashalm ohne Knoten; denn er wies stets darauf hin, was noch entknotet werden müsse. Dagegen war der andere höchst schlagfertig im Antworten. Er wich keiner Frage aus, ergriff Partei, wenn sich die Standpunkte schroff widersprachen, oder bewies aus der Mehrdeutigkeit der Rede, dass es keine allgemeingültige Lösung geben könne. (in WGoez, S.222)
Eine kritische Untersuchung nimmt im Sinne des griechischen Wortes Sätze als Thesen auseinander, analysiert sie und setzt sie dann soweit wieder zusammen, wie sie
vernunftgemäß sind.
Argumentieren jenseits des Befehlstones bedarf eines konsequenten Vernunftgebrauchs, und der kollidiert schnell mit dem, was als Glauben vorgeschrieben wird. Für Otto von Freising sind die Gelehrteren mit ihrem nachdenklicheren Vernunftgebrauch gefährdeter, was Unglauben angeht, denn
jene, die gemäß der menschlichen Vernunft über die Ursachen der Dinge philosophieren, lassen sich leichter durch vernünftige Argumente zur Leugnung des Glaubens verleiten (ut fidem negant) als durch Drohungen oder irdische Genüsse. (Chronica sive Historia)
Verurteilt und mundtot gemacht wird dann auch in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein Abaelard, der in der 'Historia Calamitates' rückblickend schreibt:
Ich befasste mich damals zuerst damit, die Grundlagen unseres christlichen Glaubens durch Analogien aus dem Gebiet der menschlichen Vernunft zu erläutern, und verfasste eine theologische Abhandlung >Über die göttliche Einheit und Freiheit< für meine Studenten. Diese begehrten eine verständliche philosophische Beweisführung und wollten Begreifbares hören, nicht bloße Worte (…) Man könne erst etwas glauben, wenn man es zuvor begriffen hätte.
Ansatzweise gibt es nun bereits die Frage danach, was bloßes Wort sei und was es jenseits davon tatsächlich "gäbe". Damals entwickelt sich nämlich aus den Dialektiken in re und denen in voce der metaphysisch werdende Universalienstreit, in den Abaelard mitten hinein gerät: Sind Allgemeinbegriffe das Gemeinsame in verschiedenen Einzelnen, also Abstraktionen, oder, wie die „Realisten“ unter den „Nominalisten" sagen, so wirklich wie der konkrete Baum und Berg.
Das lässt sich erklären. Verhängnisvoller wird aber solches Philosophieren werden, wenn es weiterhin das Medium seines Denkens, die Sprache, nicht ernsthafter hinterfragt: Wird nicht manches auch benannt, was es nur als vorgestelltes Gedanken-Gebilde gibt, womöglich auch noch moralisch unterfüttert, was aber jenseits davon nicht auffindbar ist? Was hilft es, von einem weiterhin nicht wahrnehmbaren "Gott" zu sprechen, von "dem Guten", welches jenseits anthropologischer Konstanten willkürlich vielfältigen Definitionen unterliegt, oder von Wissen, welches nicht auf tatsächlichem Kennenlernen beruht. Alle diese Fragen wird sich die nun aufkommende Scholastik, die "Schulweisheit" nicht stellen.
Eine Falle philosophierender Sprache sei dazu noch angemerkt: Gerade auch philosophisch nicht fassbare Wirklichkeit wird weiter durch eine naiv-dingliche "Realität" ersetzt, und ihr entspricht eine "Wahrheits"-Vorstellung, die ein "Wesen" bzw. "Sein" von etwas behauptet, welches seine Natur sei, eben die "Natur der Dinge", also ihr "Eigentliches", - gerade so, als ob so etwas jenseits von Vorstellung zu (be)greifen wäre. Daraus entspringt nun ein Erkenntnis-Optimismus, der sich im Bunde mit der tatsächlichen Macht des Kapitals und der Waffen bis heute als Unheilsmoment lateinischer Zivilisation bis zu ihrem Untergang in der Moderne der letzten Jahrhunderte durchsetzen wird. Jeder Versuch, dagegen skeptisch-kritisch (als Gegensatz zu: gläubig) vorzugehen, wird von denen ignoriert oder gar bekämpft werden, welche in wenigen Jahrhunderten Fortschrittsglaube als Religionsersatz propagieren werden.
***Wissenschaften***
Schon im Mittelhochdeutschen steht "Wissenschaft" neben der lateinischen scientia, die außer in skandinavische in viele andere Sprachen übernommen wird. Das Wort leidet an der kaum zufällig fehlenden Definition von dem, was "Wissen" bedeuten soll. Stattdessen werden sich im Verlauf eines langen Mittelalters unterschiedliche Kriterien für Fach-"Wissenschaftlichkeit" herausbilden, die klarer zu formulieren dann erst Sache des 19. Jahrhunderts wird, wobei kritisches Hinterfragen bis heute Sache von Außenseitern bleibt.
Wie problematisch das sein kann, zeigt eine seit dem 16. Jahrhundert auch so benannte Philologie, die zum Beispiel nun in ersten Einzelfällen beginnt, nach dem "richtigen", "wahren" Originaltext hinter den u.a. durch Abschreiben und Redigieren verdorbenen antiken Texten zu suchen. Musterbeispiel bleiben bis heute die offensichtlich mehrfach redigierten Texte des sogenannten Neuen Testamentes.
Der große Fälscher von Urkunden im Interesse seines Regensburger Klosters Otloh von St.Emmeran wiederum, ein belesener Mann, fragt schon im 11. Jahrhundert nach der Bedeutung des wortwörtlichen Sinnes der biblischen Texte, den er mit der Vortäuschung frommer Reden analog setzt, und der übertragenen Bedeutung, die erst den Sinn enthalte. Die Zweifel, die ihn plagen, können so erst überwunden werden. (Liber de temptationibus suis)
Dass Auslegungen, Interpretationen dazu tendieren, einen Text subjektiv zu verfälschen, von ihm abzukommen, wie es die Kirche von Anfang an systematisch betreibt, wird kaum wahrgenommen, wiewohl die Auseinandersetzung damit erst kritische Wissenschaftlichkeit erzeugen würde.
Das Wort Natur wird längst mit der griechischen physis insofern gleichgesetzt, als es alle nicht menschengemachte Welt benennt. Das Argument, diese sei als Schöpfung Gottes der Erforschung würdig, da man in ihr auch zu Gott finden könne, wird mit der Rezeption von Platos 'Timaios' dahin erweitert, dass ein vernünftiger Gott eine vernünftig konstruierte Natur geschaffen habe, die Menschen mit den Mitteln der Vernunft auch (ohne Rekurs auf Gott) verstehen können.
Langsam trennt sich so in unserer Zeit philosophierende Theologie von Naturbetrachtung. Vom lateinisch übersetzten 'Timaios' beeinflusst ist ein Bernardus Silvestris, der um 1150 mit 'De mundi universitatis' eine Kosmographie schreibt, ein eher extremes Beispiel. Darin "schilderte er die Schönheit und Nützlichkeit der Welt, schloss mit dem Preis der männlichen Zeugungsorgane und durchtränkte das Ganze mit einem Fruchtbarkeitskult, in dem Religion und Sexualität" sich wenig christlich vereinen. (Langosch, S.242) Ähnliches gilt auch für Alanus ab Insulis (von Lille), der im 'de planctu nature' die Natur "als herrliches, überall Freude und Liebe erweckendes Weib" darstellt (s.o.) und im 'Anticlaudianus' die Natur die Laster überwinden lässt. Das ist unmittelbar konträr der kirchlichen Lehre von der teuflisch regierten irdischen Welt, die es hin zu einer himmlischen zu überwinden gilt
Beobachtung der Himmelskörper wie der lebendigen Natur setzt vermehrt ein und führt zu ersten Ansätzen von Experimenten, wofür als bekanntes Beispiel Kaiser Friedrich II. u.a. mit seinem Falkenbuch steht.
In der erotischen Lyrik und im Heldenepos ist topische Naturbenennung weithin Dekor, der ins Erotische einstimmen soll. Aber wenigstens als solche ist sie präsent. In wenigen Einzelfällen taucht sie aber schon als jene Alternative zum Leben in Palast oder Stadt auf, die dann später sowohl Adel wie Bürger genießen. Der auch durch Liebeslyrik bekannte Bischof Marbod von Rennes schreibt irgendwann um 1100 in einem (lateinischen) Gedicht:
Ein Landgut im Walde besitzt mein Oheim, wohin ich mich für gewöhnlich oft zu den Annehmlichkeiten des Landlebens zurückziehe, den Sorgenstaub und alles, was den Menschen quält, abschüttelnd. Pflanzengrün, Waldesstille, ein linder Lufthauch und der freundlich plätschernde Wiesenquell erfrischen den ermüdeten Geist und geben mich mir zurück, erlauben mir, mich zu sammeln. Denn wer kann schon in der geschäftigen Stadt bestehen, die sich in mannigfachen Aufregungen erhitzt, ohne dass er sich selbst verlöre. (in: Dinzelbacher, S.175)
Damit werden Aspekte einer antiken Idyllisierung von "Natur" wieder aufgenommen, wie sie auch in einigen Texten der amourösen Lyrik auftauchen. Es beginnt ganz
zaghaft jene Spaltung in rabiate (Ver)Nutzung der natürlichen Lebensgrundlagen, und andererseits ihre Romantisierung als Fluchtperspektive, beide gleich unheilvoll für die Zukunft bis
heute.
Mit dem Einfluss ins Lateinische übersetzter griechischer Texte und wohl auch arabischer Praktiker trennt sich eine akademischer werdende Medizin von bisheriger nachantiker Erfahrungs-Heilkunde. Einerseits verharrt sie oft bei der wenig hilfreichen Theorie von ominösen vier Körpersäften, deren Ungleichgewicht Krankheiten hervorrufen soll, andererseits darf sie, wo Verletzungen, Schmerzen und Krankheiten auftauchen, manchmal wie bei einer Medizinergruppe in Salerno, Freiräume einnehmen, die Religion und insbesondere Theologie in den Hintergrund drängen.
1180 entsteht in Montpellier eine erste medizinische Hochschule, wobei ein Teil der Lehrer aus Salerno kommt, einige weitere sind jüdische Ärzte aus Spanien.
Im Reich abstrakter Eigentlichkeit verharren Algebra und Geometrie, die der Handel und diverse technische Probleme hervorgebracht hatten. In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts übersetzt Adelard von Bath die 'Elemente' des Euklid aus dem Arabischen vollständig ins Lateinische. Hundert Jahre später studiert Leo von Pisa ("Fibonacci") auf seinen Handelsreisen im Mittelmeerraum Mathematik und schreibt mit seinem 'Liber abaci' ein Standardwerk. Sein Ruhm reicht dann so weit, dass er am Hofe Kaiser Friedrichs II. für dessen Lieblingsgelehrten Michael Scotus arbeitet.
Die Geometrie übernimmt antikes Erbe, was nicht zuletzt die Baukunst beflügeln wird, während Mathematik auch der Entfaltung des Handels dienlich zu sein hat.
Neben den Anfängen einer neuen Theologie, aus der sich eine neue Philosophie im Verlaufe vieler Jahrhunderten emanzipieren wird, und einem Neuanfang in Richtung Naturwissenschaften, kommt es in derselben Zeit auch zur stärkeren Wiederentdeckung des römischen Rechtes für den weltlichen Raum. So wie die Theologie auf unverrückbaren Glaubenssetzen beruht, beginnt auch das neue Ius-Studium mit der dogmatischen Aneignung römischen Rechtes der späten Kaiserzeit, insbesondere den juristischen Erläuterungen kaiserlichen Rechtes, die Justinian hatte zusammenfassen lassen, den Digesten. Vorlesungen bringen dies "Recht" nicht zuletzt in Bologna Studenten nahe, Glossen kommentieren es als Marginalien.
Schon vor dem Aufschwung kaiserlich-römischen Rechtes kommt es zu einer Systematisierung des (päpstlichen) Kirchenrechtes, in dem die spätrömischen Rechtsvorstellungen ohnehin immer lebendig geblieben waren. Kanonistik und (weltliche) Legistik beeinflussen sich nun gegenseitig und unterstützen sich bei der Ausbreitung. Dazu gehört auch die Systematisierung des Feudalrechtes.
Römisches Recht definiert die autoritären Strukturen der römischen Kirche, aber ebenso auch neben feudalen Rechtsvorstellungen die immer autoritärer werdender Königreiche und Fürstentümer, und dringt langsam auch in kapitalistischer strukturierte Städte ein. Juristen sind zunächst einmal Schreibkundige und dabei möglichst versiert im jeweils aktuellen Mittellatein. Sie treten als Notare auf, die rechtsverbindliche Texte "notieren", und als Advokaten, als rechtliche Vertreter anderer.
Während es den Philosophen und Wissenschaftlern zunächst nur dort gelingen wird, eine Art Berufsstand zu entwickeln, wo sie in das Regelwerk von Universitäten eingebunden werden, haben es Juristen leichter. Sie identifizieren sich mit Macht und Reichtum, ist doch Ius selbst eher ein Machtinstrument als eine Wissenschaft. Dabei versuchen sie selber reich zu werden und umgeben sich mit berufsständischer Prächtigkeit. Man heiratet untereinander oder bald auch in die städtische Oberschicht hinein und übernimmt deren Lebensformen.
Nicht nur Wissensdurst lässt ein Studium betreiben, sondern zunehmend auch Karriere-Perspektiven. "Schon im frühen 13. Jahrhundert war in England ein Drittel bis fast die Hälfte der königlichen Verwaltung mit Magistern besetzt, in Frankreich dagegen waren es weniger als 20 Prozent." (Haas, S.358) In deutschen Landen sind es noch erheblich weniger. Nicht nur Juristen bescheiden sich bei ihrer (Aus)Bildung darum vor einem Fachstudium immer mehr mit dem Trivium und verzichten auf das Quadrivium, haben so einen nur noch "trivialen" Grundstock für ihre Sicht auf die Welt.
***Universitäten***
Universitäten entstehen in bedeutenden Städten wie Paris, Bologna und Oxford, an denen sich immer mehr Lehrer und Schüler konzentrieren.
Die Pariser Schulen insbesondere auf dem linken Seine-Ufer und der Île de la Cité wachsen im 12. Jahrhundert immer mehr zu dem zusammen, was Rexroth ein "Schulenmilieu" nennt. Ab etwa 1180 werden dann Vorlesungen bekannt, mit denen ein Neuankömmlung sich um ein Magisterium bewirbt, was Rexroth "Antrittsvorlesungen" (in Anführungsstrichen) nennt (S.318) Bald sind nach Schätzungen rund 130 Magister vertreten, die wohl über 3000 Scholaren unterrichten. Paris wird immer mehr auch von seinen Schulen geprägt.
Diese tragen hier zunächst stark klerikalen Charakter. Gegen die bischöfliche Macht schließen sich dann in Paris die Professoren in der Zeit nach 1200 zu einer universitas der Lehrenden (und Lernenden) zusammen, und zwar für eine eigene Gerichtsbarkeit, aber auch um neue Lehrer berufen zu können, und so über die inhaltliche Ausrichtung zu bestimmen. Der Bischof muss sie dann bestätigen. Unabhängigkeit nach oben entwickelt sich auch darüber, dass die Lehrenden von ihren Schülern bezahlt werden. 1200 gibt es dazu das Scholarenprivileg König Philipps II., in dem die Studenten der kirchlichen Gerichtsbarkeit unterworfen und so aus der Stadt herausgehoben werden. Die langsam entstehende Universität unterstellt sich zudem dem Papst und erhält von ihm 1215 die Bestätigung ihrer Satzungen mit vielen Detailregelungen wie einer Kleiderordnung, einer Liste verbotener Texte oder der Verpflichtung des Scholaren auf einen bestimmten Magister.
Als klerikale Einrichtung ist die Sprache der Lehre Latein, und ein Mittellatein dürfte wohl auch die Umgangssprache untereinander gewesen sein, - in einer Umwelt, die ein altes Französisch spricht, welches sich schon weit vom Lateinischen entfernt hat.
In Bologna bilden etwa zur selben Zeit die Studenten "Nationen" und dann, "den Zünften oder gar einer Kommune vergleichbar, eine >Universität< unter selbstbestimmter Leitung, eine Körperschaft, die in die Gemeinschaften der >Cismontani< und der >Ultramontani< der von diesseits und jenseits der Alpen Stammenden, gegliedert ist. Sie bestellen und bezahlen die Professoren, die auf der Basis von Verträgen einer strengen Kontrolle unterworfen werden: Wer mit dem Stoff nicht durchkommt, muss Hörgeld zurückgeben, wer nicht mit dem Läuten der Vorlesung begann, erhält einen Abzug.“ (KellerBegrenzung, S.311)
Etwa zugleich entwickelt sich die Frühform einer Universität in Oxford. Es entstehen collegia, die zu Gebäuden um größere Innenhöfe führen, welche auf Stiftungen zurückgehen. Hier gilt ein ganztägiger Stundenplan bis zur Nachtruhe im Dormitorium. Zwischen Student und Magister tritt nach und nach der baccalarius (bachelor).
Um 1200 gibt es Fakultäten des Rechts, der artes und der Theologie. Großer Wert wird auf das Studium des Aristoteles und auf die Naturphilosophie gelegt. Dabei hilft, dass die Aufsicht des Bischofs von Lincoln weit entfernt ist.
1209 kommt es zu einem Konflikt um die akademische Freiheit, als nämlich ein Student eine Frau tötet und flüchtet, und darauf Vertreter der Gemeinde drei seiner Mitbewohner ersatzweise ergreifen und aufhängen. Darauf flüchtet ein Teil der Universität in die Diözese Ely und gründete dort eine neue Universität (Cambridge). Ein Teil der Studenten kann dann wieder zurückkehren.
1224 richtet Friedrich II. in Neapel Studien ein, die ihm eine höher qualifizierte Beamtenschaft zuführen sollen. Sie umfassen alle damals von der Kirche anerkannten Wissenschaften, stehen aber unter enger Aufsicht des Kaisers, und ihnen wird entsprechend keine ansatzweise Autonomie einer universitas zuerkannt. Entsprechend wenig attraktiv sind sie für Lehrende aus Bologna, die aber manchmal nach Padua abwandern, wo dann nach 1260 auch eine Universität entsteht.
1254 erhebt Alfons X. von Kastilien und Leon, 'El Sabio' (der Weise), eine schon seit 1245 bestehende Schule in den Rang einer Universität. Bei ihm, wie bei Friedrich II., ist die Basis eine gewisse Bildung, Förderung von Literatur und Geschichtsschreibung, aber im Unterschied zum Staufer beschränkt er seine Einrichtung nicht auf das Rechtsstudium. Die Bezahlung der Lehrer in Salamanca wird vom König geregelt, der darüber Einfluss ausübt. Damit entsteht keine wirkliche universitäre Autonomie.
In deutschen Landen gibt es bezüglich all dieser Entwicklungen einen Nachholbedarf, der erst hundert Jahre später zu einer Universität in Prag führen wird.
Das Wesen solcher Universitäten besteht vor allem darin, dass nicht mehrere (hohe) Schulen an einem Ort nebeneinander bestehen, sondern zu einer Institution zusammengefasst werden. Diese bildet eine beschworene Einung, die sich mehr oder weniger selbstverwaltet und tendenziell auf Autonomie auch betreffs der Inhalte der Lehre und Forschung besteht, was nur manchmal und eingeschränkt gelingt.
Nicht übersehen werden darf, dass Universitäten (Herrschafts)Instrumente von Kirche und werdenden Staaten sind. Hier werden Leute zunehmend für Karrieren in Regierung und Verwaltung abgerichtet. Mit ihrer Abschließung nach außen und ihrem Ausschluss von Vertretern nicht akzeptierter Positionen tendieren sie dazu, die Gelehrtenwelt als Instrument der Mächtigen zu dominieren.
Aber so wie die städtische Kommune als Schwurgemeinschaft ist auch die Universität im Mittelalter eine Besonderheit des lateinischen Abendlandes.
Keller fasst Formen von Lehre und Vermittlung so zusammen: „Textanalyse aufgrund gemeinsamer Lektüre, Kommentierung, Eingrenzung und Aufgliederung des durch den Text und seine Konfrontation mit anderen Autoritäten gestellten Problems, argumentative Lösung, Einordnung in das übergreifende System. Fächer und Disziplin differenzierten sich.“ (Begrenzung, S.311) Das heißt, die Autoritäten werden nicht mehr einfach nur rezipiert, sondern argumentativ diskutiert. Die Beendigung des Studiums durch (diskursive) Examina setzt dann erst im 13. Jahrhundert ein.
Eine neue (Vor)Form von Wissenschaftlichkeit mit philologischen Elementen konstituiert sich, die alle Chancen auf Innovation und Emanzipation vom Hergebrachten hat. Aber wirkliche gedankliche Freiheit wird erst im ganz späten Kapitalismus, jedoch nur zeitweilig und nur in wenigen Bereichen möglich sein, jenen nämlich, die außerhalb des akademischen Rahmens nicht mehr wahrgenommen werden. Nietzsche, Marx und Freud werden ihre wichtigen Texte jenseits eines akademischen Rahmens formulieren.